V ZB 90/20
BUNDESGERICHTSHOF V ZB 90/20 BESCHLUSS vom 27. Januar 2022 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2022:270122BVZB90.20.0 Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. Januar 2022 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Göbel, die Richterin Haberkamp, den Richter Dr. Hamdorf und die Richterin Laube beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 15. Oktober 2020 wird als unzulässig verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens einschließlich etwaiger Kosten der Streithelferin der Beklagten.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 36.000 €.
Gründe:
I.
Die Parteien sind Nachbarn. Die Beklagten nutzen einen Teil der Grundstücke der Klägerin als Zufahrt zu ihren Grundstücken. Die Klägerin verlangt von den Beklagten mit der Klage, diese Nutzung zu unterlassen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Unterlassungsanspruch der Klägerin sei verwirkt, zudem ergebe sich ein Anspruch der Beklagten auf Nutzung der Zufahrt aus Gewohnheitsrecht. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die Beklagten zu 1, 2 und 9 beantragen.
II.
Das Berufungsgericht meint, die Klägerin habe das Urteil des Landgerichts in der Berufungsbegründung nicht in der vorgeschriebenen Weise angegriffen. Das Landgericht habe die Klageabweisung in erster Linie tragend auf die Verwirkung von Unterlassungsansprüchen der Klägerin gestützt. Hierzu enthalte die Berufungsbegründung keine Ausführungen. Sie befasse sich ausschließlich mit den nach Auffassung der Klägerin nicht vorliegenden Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht.
III.
Die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO sind nicht erfüllt. Insbesondere ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) erforderlich. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzt der angefochtene Beschluss die Klägerin nicht in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Berufungsbegründung der Klägerin entspreche inhaltlich nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO, ist nicht zu beanstanden.
1. Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Dazu gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmte Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche tatsächlichen oder rechtlichen Gründe er ihnen im Einzelnen entgegensetzt. Hat das Erstgericht die Abweisung der Klage auf mehrere voneinander unabhängige, selbständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss die Berufungsbegründung in dieser Weise jede tragende Erwägung angreifen. Andernfalls ist das Rechtsmittel unzulässig (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 28. Februar 2007 - V ZB 154/06, NJW 2007, 1534 Rn. 11; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 28/13, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 16. März 2021 - VI ZB 97/19, NJW-RR 2021, 789 Rn. 5; Beschluss vom 23. Juni 2021 - VII ZB 4/21, juris Rn. 10; Beschluss vom 19. August 2021 - III ZB 23/21, juris Rn. 8 jeweils mwN).
2. Diesen Anforderungen wird die Berufungsbegründung der Klägerin nicht gerecht.
a) Das Landgericht hat angenommen, die von der Klägerin geltend gemachten Unterlassungsansprüche seien jedenfalls verwirkt. Ein Anspruch auf Unterlassung sei von keinem der Rechtsvorgänger der Klägerin geltend gemacht worden, insbesondere nicht in den letzten 20 Jahren vor dem Erwerb durch die Klägerin. Es sei offensichtlich, dass die Beklagten schon bei dem Kauf ihrer Grundstücke darauf vertraut hätten, dass der einzig bestehende Zuweg zu den Grundstücken von ihnen tatsächlich benutzt werden könne. Gegen diese, die Klageabweisung selbständig tragende Erwägung des Landgerichts, bringt die Berufungsbegründung nichts vor. Dort heißt es einleitend:
„Zu Unrecht hat das erstinstanzliche Gericht die Klage der Klägerin abgewiesen. Das Landgericht Aachen hat sich zur Begründung auf den Standpunkt gestellt, dass die geltend gemachten Unterlassungsansprüche verwirkt seien. Unter dem Gesichtspunkt eines bestehenden Gewohnheitsrechts stünde es den Beklagten zu, das Privatgrundstück der Klägerin als Zuwegung zu ihren Grundstücken zu nutzen.“
Sodann setzt sich die Berufungsbegründung aber allein mit den Voraussetzungen für das Entstehen von Gewohnheitsrecht auseinander, zu den Voraussetzungen der Verwirkung enthält der Schriftsatz keine Ausführungen.
b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war ein solcher Angriff nicht deshalb entbehrlich, weil die Ausführungen zum Nichtbestehen von Gewohnheitsrecht auch den Abweisungsgrund der Verwirkung zu Fall brächten.
aa) Richtig ist zwar, dass der gesetzlichen Anforderung an die Berufungsbegründung, den Rechtsfehler und dessen Entscheidungserheblichkeit zu bezeichnen, auch bei einer auf mehrere selbständige Gründe gestützten klageabweisenden erstinstanzlichen Entscheidung genügt ist, wenn der nur auf eine Begründung bezogene Angriff aus Rechtsgründen auch den anderen Abweisungsgrund im angefochtenen Urteil zu Fall bringt oder geeignet ist, das Urteil insgesamt in Frage zu stellen (Senat, Beschluss vom 28. Februar 2007 - V ZB 154/06, NJW 2007, 1534 Rn. 12; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 28/13, juris Rn. 8).
bb) So liegt es hier aber nicht. Die Rechtsbeschwerde verweist insoweit allein auf Vortrag der Klägerin, wonach die jahrelange Nutzung des Weges durch die Beklagten in der irrigen Annahme erfolgt sei, hierzu schuldrechtlich oder nach § 917 BGB berechtigt zu sein. Trifft dieser Vortrag zu, ist zwar der Annahme von Gewohnheitsrecht - das allerdings als dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle allgemeiner Art ohnehin nur zwischen einer Vielzahl von Rechtsindividuen und in Bezug auf eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen, nicht aber beschränkt auf ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn entstehen kann (vgl. Senat, Urteil vom 24. Januar 2020 - V ZR 155/18, NJW 2020, 1360 Leitsatz 1 und Rn. 9) - die Grundlage entzogen, nicht aber der Annahme der Verwirkung des Unterlassungsanspruchs aus § 1004 Abs. 1 BGB.
(1) Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, und deswegen die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 30. April 1993 - V ZR 234/91, BGHZ 122, 308, 315; Urteil vom 15. Dezember 2017 - V ZR 275/16, WuM 2018, 236 Rn. 15 mwN). Die Verwirkung ist somit ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB); sie kann im gesamten Privatrecht eingewendet werden. Auch die aus Besitz bzw. Eigentum abgeleiteten Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche nach § 862 Abs. 1 BGB, § 1004 Abs. 1 BGB unterliegen der Verwirkung (vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 2005 - V ZR 169/04, NJW-RR 2006, 235 Rn. 10; Urteil vom 12. Dezember 2014 - V ZR 36/14, NJW 2015, 1750 Rn. 11). Offen ist allerdings bislang, ob und unter welchen Voraussetzungen eine eingetretene Verwirkung einen Rechtsnachfolger binden kann (vgl. Senat, Urteil vom 20. November 2015 - V ZR 284/14, NJW 2016, 473 Rn. 30 mwN, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 208, 29).
(2) Das Vorliegen dieser Voraussetzung konnte das Landgericht unabhängig von der Frage bejahen, ob die Beklagten glaubten, zur Nutzung der Grundstücke der Klägerin schuldrechtlich oder aufgrund eines Notwegrechts nach § 917 BGB berechtigt zu sein. Soweit sich die Rechtsbeschwerde auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10. September 2002 (X ZR 199/01, WRP 2002, 1448) beruft, folgt hieraus nichts anderes. Dort wird im Zusammenhang mit der Verwirkung von Vergütungsansprüchen des Arbeitnehmererfinders gegen den Arbeitgeber ausgeführt, dass es bei der Gesamtbewertung der Umstände des Einzelfalls darauf ankommen kann, ob sich der Anspruchsgegner in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befand und ob dieser Rechtsirrtum vom Rechtsinhaber, also vom Gläubiger, zu verantworten ist (BGH, Urteil vom 10. September 2002 - X ZR 199/01, aaO S. 1451). Das machte einen gesonderten Berufungsangriff aber schon deshalb nicht entbehrlich, weil weder festgestellt ist noch von der Rechtsbeschwerde aufgezeigt wird, dass die Klägerin als Gläubigerin des Unterlassungsanspruchs dafür verantwortlich sein könnte, dass die Beklagten rechtsirrig von einem bestehenden Notwegrecht und damit von einem nicht bestehenden Unterlassungsanspruch der Klägerin ausgegangen sind. Im Übrigen würde eine solche Konstellation die Schutzwürdigkeit der Klägerin (weiter) herabsetzen, also noch eher zu der Annahme führen, ihr Unterlassungsanspruch sei verwirkt.
IV. 14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 ZPO.
Stresemann Hamdorf Göbel Laube Haberkamp Vorinstanzen:
LG Aachen, Entscheidung vom 24.01.2020 - 8 O 165/19 OLG Köln, Entscheidung vom 15.10.2020 - 19 U 18/20 -