X ARZ 147/21
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS X ARZ 147/21 vom
13. Juli 2021 in dem Gerichtsstandsbestimmungsverfahren ECLI:DE:BGH:2021:130721BXARZ147.21.0 Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. Juli 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Bacher, die Richter Dr. Grabinski und Hoffmann, die Richterin Dr. Kober-Dehm und den Richter Dr. Rensen beschlossen:
Zuständiges Gericht ist das Niedersächsische Finanzgericht.
Gründe:
I. Die Klägerin nimmt das beklagte Land auf Unterlassung der Durchführung einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung in Anspruch.
Die Klägerin betreibt ein Speditionsunternehmen. In den Jahren 2017 bis 2020 unterhielt sie Geschäftsbeziehungen zu einer Gesellschaft, gegen deren Geschäftsführer ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet worden war. In diesem Zusammenhang ordnete das Finanzamt S. eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei der Klägerin an.
Das Landgericht Lüneburg hat die auf Unterlassung der Sonderprüfung gerichtete Klage durch Versäumnisurteil abgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin Einspruch eingelegt. Nach Anhörung der Parteien hat das Landgericht den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit durch Beschluss an das Niedersächsische Finanzgericht verwiesen.
Das Finanzgericht hat den Rechtsstreit an das Landgericht Lüneburg zurückverwiesen.
Daraufhin hat das Landgericht die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
II. Das zuständige Gericht ist in entsprechender Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu bestimmen.
1. Bei negativen Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige ist § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO entsprechend anwendbar.
Obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener 8 Beschluss, mit dem ein Gericht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine regelmäßig deklaratorische Zuständigkeitsbestimmung entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten, oder wenn die Verfahrensweise eines Gerichts die Annahme rechtfertigt, dass der Rechtsstreit von diesem nicht prozessordnungsgemäß gefördert werden wird, obwohl er gemäß § 17b Abs. 1 GVG vor ihm anhängig ist (BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - X ARZ 562/20; Beschluss vom 19. August 2019 - X ARZ 329/19, DGVZ 2019, 258 Rn. 5; Beschluss vom 24. Oktober 2017 - X ARZ 326/17, NJW-RR 2018, 250 Rn. 7; Beschluss vom 11. Juli 2017 - X ARZ 76/17, WM 2017, 1755 Rn. 4).
So liegt der Fall hier. Das Landgericht und das Finanzgericht haben eine inhaltliche Befassung mit der Sache abgelehnt.
2. Der Bundesgerichtshof ist für die Entscheidung zuständig.
Sofern zwei Gerichte unterschiedlicher Rechtswege ihre Zuständigkeit verneint haben, obliegt die Bestimmung des zuständigen Gerichts demjenigen obersten Gerichtshof des Bundes, der zuerst darum angegangen wird (BGH, DGVZ 2019, 258 Rn. 6; NJW-RR 2018, 250 Rn. 8; Beschluss vom 29. April 2014 - X ARZ 172/14, NJW 2014, 2125 Rn. 7).
III. Zuständiges Gericht ist das Niedersächsische Finanzgericht.
Seine Zuständigkeit ergibt sich aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Landgerichts Lüneburg nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG.
1. Ein nach § 17a GVG ergangener Beschluss, mit dem ein Gericht den zu ihm beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Gericht eines anderen Rechtswegs verwiesen hat, ist einer weiteren Überprüfung entzogen, sobald er unanfechtbar geworden ist.
a) Ist das zulässige Rechtsmittel nicht eingelegt worden oder ist es erfolglos geblieben oder zurückgenommen worden, ist die Verweisung für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindend (BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - X ARZ 562/20 Rn. 16; DGVZ 2019, 258 Rn. 8; WM 2017, 1755 Rn. 8; NJW 2014, 2125 Rn. 9).
Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.
Die Klägerin hat den Verweisungsbeschluss zunächst mit der sofortigen Beschwerde angefochten, diesen Rechtsbehelf später aber zurückgenommen.
b) Einer Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses steht nicht entgegen, dass das Landgericht gegen die Klägerin bereits ein Versäumnisurteil erlassen hat.
Wie das Finanzgericht im Ansatz zutreffend ausführt, kann allerdings auch eine konkludente Entscheidung über den Rechtsweg einer Überprüfung im Rechtsmittelverfahren entzogen sein. So ist ein Berufungsgericht in bestimmten Konstellationen gehindert, die Zulässigkeit des Rechtswegs zu prüfen, wenn die Vorinstanz durch Endentscheidung der Klage stattgegeben und damit konkludent die Rechtswegzuständigkeit bejaht hat (BGH, Urteil vom 19. November 1993 - V ZR 269/92, NJW 1994, 387, juris Rn. 9; Beschluss vom 29. Juli 2004 - III ZB 2/04, NJW-RR 2005, 142, juris Rn. 11).
Ob diese Grundsätze auch dann gelten, wenn ein Gericht die Klage durch Versäumnisurteil gegen den Kläger abgewiesen hat, bedarf im Streitfall keiner abschließenden Entscheidung. Voraussetzung für eine Bindungswirkung ist nämlich, dass das erstinstanzliche Gericht die Verfahrensgrundsätze des § 17a GVG eingehalten hat. Hierzu gehört insbesondere, dass es eine beschwerdefähige Vorabentscheidung über den Rechtsweg trifft, wenn der Beklagte eine entsprechende Rüge erhebt, wie dies in § 17a Abs. 3 Satz 2 GVG für diesen Fall zwingend vorgeschrieben ist (BGH, NJW 1994, 387, juris Rn. 10; NJW-RR 2005, 142, juris Rn. 12). Diese Anforderung hat das Landgericht im Streitfall nicht eingehalten.
Das beklagte Land hat in seiner Klageerwiderung die fehlende Zuständigkeit der Zivilgerichte gerügt. Das Landgericht durfte über die Rechtswegzuständigkeit deshalb nicht konkludent entscheiden. Das von ihm erlassene Versäumnisurteil kann diesbezüglich schon deshalb keine Bindungswirkung entfalten.
2. Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts entfällt die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nicht wegen möglicher Rechtsfehler.
a) Die Korrektur einer bindenden Entscheidung kommt im Verfahren entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO allenfalls in extremen Ausnahmefällen in Betracht.
Das Gesetz misst zwar der Entscheidung des Rechtsstreits durch ein Gericht des zulässigen Rechtswegs größere Bedeutung zu als der Entscheidung durch das örtlich oder sachlich zuständige Gericht. Das gesetzliche Mittel zur Sicherung einer Entscheidung durch das Gericht des zulässigen Rechtswegs ist aber allein die Eröffnung des Rechtsmittels gegen den Verweisungsbeschluss.
Ist die örtliche oder sachliche Zuständigkeit zweifelhaft, ist die Verweisung nicht nur bindend (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO), sondern auch der Überprüfung im Rechtsmittelzug entzogen (§ 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Demgegenüber kann die Frage des Rechtswegs im Rechtsmittelzug uneingeschränkt überprüft werden; insoweit muss gegebenenfalls das Interesse der nicht rechtsmittelführenden Partei an einer zügigen Sachprüfung des Klagebegehrens zurücktreten. Damit hat es jedoch auch sein Bewenden: Nicht das Gericht des von dem verweisenden Gericht für zulässig erachteten Rechtswegs, sondern allein das Rechtsmittelgericht ist zu einer Überprüfung berufen.
Für eine Durchbrechung der Bindungswirkung, wie sie im Anwendungsbereich des § 281 Abs. 1 ZPO insbesondere für objektiv willkürliche Entscheidungen anerkannt ist, ist deshalb grundsätzlich kein Raum.
Nicht das Gericht, an das verwiesen wird, sondern die Parteien sollen vor willkürlichen oder sonst jeder gesetzlichen Grundlage entbehrenden Entscheidung geschützt werden, mit der ihr Streitfall dem zuständigen Gericht und damit dem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzogen wird. Steht den Parteien aber ein Rechtsmittel zu Gebote und wird dieses nicht genutzt, besteht grundsätzlich kein Anlass, dem Gericht des für zulässig erklärten Rechtswegs die Befugnis zuzubilligen, sich an die Stelle des Rechtsmittelgerichts zu setzen (BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - X ARZ 562/20 Rn. 22; DGVZ 2019, 258 Rn. 10; Beschluss vom 2. Oktober 2018 - X ARZ 482/18, NJOZ 2019, 487 Rn. 12; Beschluss vom 14. Mai 2013 - X ARZ 167/13, MDR 2013, 1242 Rn. 12).
b) Der Bundesgerichtshof hat bislang offenlassen können, ob Ausnahmefälle denkbar sind, in denen die bindende Wirkung einer rechtskräftigen Verweisung zu verneinen ist. Diese Frage kann auch im Streitfall offenbleiben.
Eine Durchbrechung der Bindungswirkung kommt allenfalls bei, wie es das Bundesverwaltungsgericht formuliert hat (BVerwG, Beschluss vom 8. November 1994 - 9 AV 1/94, NVwZ 1995, 372), "extremen Verstößen" gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften in Betracht (BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - X ARZ 562/20 Rn. 24; DGVZ 2019, 258 Rn. 11; Beschluss vom 16. April 2019 - X ARZ 143/19, ZInsO 2019, 260 Rn. 13; BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2017 - X ARZ 326/17, NJW-RR 2018, 250 Rn. 19 mwN).
Ein solcher Rechtsverstoß liegt im Streitfall nicht vor.
aa) Ob die vom Landgericht vertretene Rechtsauffassung zutrifft, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Sie lässt jedenfalls keinen extremen Rechtsverstoß im oben genannten Sinne erkennen.
bb) Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts ist der Grundsatz des gesetzlichen Richters nicht deshalb verletzt, weil das Landgericht seine Zuständigkeit zunächst konkludent bejaht und später verneint hat.
Wie bereits oben dargelegt wurde, entfaltet das Versäumnisurteil keine Bindung hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage. Das Landgericht war deshalb berechtigt und verpflichtet, diese Frage auch im weiteren Verlauf des Verfahrens zu prüfen. Dass es hierbei zu einer von seiner ursprünglichen Einschätzung abweichenden Auffassung gelangt ist, begründet nicht den Vorwurf der Willkür.
cc) Der Grundsatz des gesetzlichen Richters ist auch nicht deshalb verletzt, weil das Finanzgericht nach der Verweisung formell über die Aufrechterhaltung oder Aufhebung des vom Landgericht erlassenen Versäumnisurteils zu entscheiden hat.
Wie das Finanzgericht im Ansatz zutreffend darlegt, ist das Verfahren durch den Einspruch in die Lage zurückversetzt worden, in der es sich vor dem Eintritt der Säumnis befand (§ 342 ZPO). Das Finanzgericht wird mithin nicht darüber zu entscheiden haben, ob das Versäumnisurteil zu Recht ergangen ist, sondern darüber, ob die Klage zulässig und begründet ist. Wenn es seine Urteilsformel zweckmäßigerweise an § 343 ZPO ausrichtet, liegt darin kein Eingriff in eine fremde Gerichtsbarkeit, sondern lediglich eine formelle Anpassung an die besondere Verfahrenssituation.
Bacher Kober-Dehm Grabinski Rensen Hoffmann Vorinstanz: LG Lüneburg, Entscheidung vom 29.03.2021 - 2 O 63/20 -