X ARZ 79/25
BUNDESGERICHTSHOF X ARZ 79/25 BESCHLUSS vom 29. April 2025 in dem Gerichtsstandbestimmungsverfahren ECLI:DE:BGH:2025:290425BXARZ79.25.0 Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. April 2025 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Bacher, den Richter Dr. Deichfuß, die Richterin Dr. Marx und die Richter Dr. Rensen und Dr. Crummenerl beschlossen:
Zuständig ist das Amtsgericht Mitte in Berlin.
Gründe:
I. Die Parteien machen wechselseitig Ansprüche im Zusammenhang mit einer Wohnung geltend.
Der Beklagte war seit dem 10. Juni 2005 als Verkaufsleiter bei der Klägerin beschäftigt. In Abrechnungen über sein Arbeitsentgelt war unter anderem die Gewährung einer freien Wohnung als geldwerter Vorteil in Höhe von 235 Euro ausgewiesen. Ab 1. Mai 2016 war der Beklagte unter der betreffenden Anschrift amtlich gemeldet.
Mit Schreiben vom 14. August 2020 erklärte die Klägerin gegenüber dem Beklagten die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses und des Nutzungsverhältnisses über die Räume. Der Beklagte nutzte diese in der Folgezeit für eine selbstständige Tätigkeit weiter.
Mit rechtskräftigem Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. September 2023 ist der Beklagte zur Räumung bis zum 30. März 2024 verurteilt worden. Am 1. Februar 2024 hat er die Räume an die Klägerin herausgegeben.
Mit ihrer vor dem Arbeitsgericht Berlin erhobenen Klage begehrt die Klägerin Ersatz für die Nutzung der Räume ab dem 15. August 2020. Der Beklagte macht im Wege der Widerklage gegen die Klägerin und deren Geschäftsführer aus eigenem und abgetretenem Recht einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen für Bauleistungen geltend, die er und sein Lebensgefährte seinem Vortrag zufolge zwischen Januar 2015 und Juli 2016 in den Räumen erbracht haben.
Mit Verfügung vom 12. September 2024 hat das Arbeitsgericht die Parteien darauf hingewiesen, dass das Vertragsverhältnis über eine Werkdienstwohnung wegen der wirksamen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausschließlich mietrechtlichen Regelungen unterliege und der Rechtsstreit mangels arbeitsrechtlichen Bezugs an das Landgericht Berlin zu verweisen sei.
Mit Beschluss vom 13. November 2024 hat das Arbeitsgericht den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit unter Bezugnahme auf § 23 Nr. 2 Buchst. a GVG an das Amtsgericht Mitte in Berlin verwiesen.
Das Amtsgericht hat sich mit Beschluss vom 25. Februar 2025 seinerseits für unzuständig erklärt und die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Es hält den Verweisungsbeschluss für willkürlich und nicht bindend, weil die nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergangene Räumungsentscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg zumindest präjudiziell für die Rechtswegzuständigkeit sei und die Arbeitsgerichte dementsprechend für Klage und Widerklage nach § 2 Nr. 4 Buchst. a ArbGG zuständig seien.
II. Das zuständige Gericht ist in entsprechender Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu bestimmen.
1. Bei negativen Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige ist § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO entsprechend anwendbar.
Obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine - regelmäßig deklaratorische - Zuständigkeitsbestimmung entsprechend § 36 Abs.1 Nr. 6 ZPO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit dann geboten, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten, oder die Verfahrensweise eines Gerichts die Annahme rechtfertigt, dass der Rechtsstreit von diesem nicht prozessordnungsgemäß gefördert werden wird, obwohl er gemäß § 17b Abs. 1 GVG vor ihm anhängig ist (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2013 - X ARZ 167/13, NJOZ 2014, 446 Rn. 5; Beschluss vom 2. Oktober 2018 - X ARZ 482/18, NJOZ 2019, 487 Rn. 5).
So liegt der Fall hier.
Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Amtsgericht haben eine inhaltliche Befassung mit der Sache abgelehnt.
2. Der Bundesgerichtshof ist für die Entscheidung zuständig.
Sofern zwei Gerichte unterschiedlicher Rechtswege ihre Zuständigkeit verneint haben, obliegt die Bestimmung des zuständigen Gerichts demjenigen obersten Gerichtshof des Bundes, der zuerst darum angegangen wird (BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 - X ARZ 76/17, NJW-RR 2017, 1215 Rn. 6).
III. Zuständig ist das Amtsgericht Mitte.
Die Zuständigkeit ergibt sich aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Arbeitsgerichts (§ 48 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG).
1. Ein nach § 17a GVG ergangener Beschluss, mit dem ein Gericht den zu ihm beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Gericht eines anderen Rechtswegs verwiesen hat, ist einer weiteren Überprüfung entzogen, sobald er unanfechtbar geworden ist. Ist das zulässige Rechtsmittel nicht eingelegt worden oder ist es erfolglos geblieben oder zurückgenommen worden, ist die Verweisung für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindend (vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2017 - X ARZ 326/17, NJW-RR 2018, 250 Rn. 10).
Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Die Parteien haben den Verweisungsbeschluss nicht angefochten.
2. Die Voraussetzungen, unter denen ein Verweisungsbeschluss ausnahmsweise nicht bindend ist, liegen im Streitfall nicht vor.
a) Wie auch das Amtsgericht im Ansatz nicht verkannt hat, ist die Korrektur einer bindenden Entscheidung im Verfahren entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar.
Eine Durchbrechung der Bindungswirkung von Verweisungsentscheidungen kommt demnach allenfalls bei, wie es das Bundesverwaltungsgericht formuliert hat (BVerwG, Beschluss vom 8. November 1994 - 9 AV 1/94, NVwZ 1995, 372), "extremen Verstößen" gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften in Betracht, etwa wenn sich die Verweisungsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. April 2024 - X ARZ 101/24, NJW-RR 2024, 994 Rn. 27).
b) Der Verweisungsbeschluss des Arbeitsgerichts leidet nicht an derart schweren Mängeln.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind für Rechtsstreitigkeiten über Werkdienstwohnungen grundsätzlich gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG die Arbeitsgerichte zuständig.
Der Grund hierfür besteht darin, dass die beiderseitigen Rechte und Pflichten bezüglich einer solchen Wohnung durch das Arbeitsverhältnis bestimmt werden und Mietrecht allenfalls subsidiär Anwendung findet (BAG, Beschluss vom 2. November 1999 - 5 AZB 18/99, BAGE 92, 336, 342 = NZA 2000, 277, 278, juris Rn. 20 ff.).
Diese Auffassung wird vom überwiegenden Teil der Instanzrechtsprechung und der Literatur geteilt (vgl. LAG Köln, Beschluss vom 4. März 2008 - 11 Sa 582/07, ZMR 2008, 963 Rn. 36; LAG Hamm, Urteil vom 11. Juni 2012 - 17 Sa 1100/11, BeckRS 2012, 70642 Rn. 10; LG Berlin, Beschluss vom 29. November 2012 - 63 T 198/21, ZMR 2013, 533, 534; Germelmann/Matthes/Prütting/Schlewing/Dickerhof-Borello, 10. Aufl. 2022, ArbGG § 2 Rn. 61; ErfK/ Ahrendt, 25. Aufl. 2025, ArbGG § 2 Rn. 14; Schmidt-Futterer/Lindner, 16. Aufl. 2024, BGB vor § 576 Rn. 12; BeckOK MietR/Bruns, 39. Ed. 01.02.2025, BGH § 576b Rn. 40; BeckOK BGB/Hannappel/Caspers, 73. Ed. 01.02.2025, BGB § 576b Rn. 16; ebenso auf der Grundlage von § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a ArbGG Tiedemann in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., BGB (Stand: 01.02.2023), § 576b BGB Rn. 21; Artz in Münchner Kommentar, 9. Aufl. 2023, BGB § 576b Rn. 10).
bb) Ob diese Zuständigkeit auch dann noch besteht, wenn das Arbeitsverhältnis wirksam beendet worden ist, der Wohnraum aber gemäß § 565e BGB a.F. (jetzt: § 576b BGB) auf der Grundlage mietrechtlicher Vorschriften weiter benutzt wird, hat das Bundesarbeitsgericht offengelassen (BAG, Beschluss vom 2. November 1999 - 5 AZB 18/99, BAGE 92, 336, 342 = NZA 2000, 277, 279, juris Rn. 26).
Instanzrechtsprechung und Literatur bejahen für diese Konstellation überwiegend eine ausschließliche Zuständigkeit der Amtsgerichte (LG Detmold, Urteil vom 9. August 1968 - 2 S 147/68, ZMR 1968, 321; AG Garmisch, Urteil vom 12. Mai 1971 - 4 C 451/70; ZMR 1972, 117; LG Augsburg, Beschluss vom 20. Januar 1994 - 2 C 1962/93, ZMR 1994, 333 Rn. 9 ff.; ArbG Hamburg, Beschluss vom 7. Oktober 2016 - 13 Ca 447/15, ZMR 2017, 858, 859; Schmitz-Justen, WuM 2000, 582 ff.; Germelmann/Matthes/Prütting/Schlewing/Dickerhof-Borello, 10. Aufl. 2022, ArbGG § 2 Rn. 61; Artz in Münchner Kommentar, 9. Aufl. 2023, BGB § 576b Rn. 10; Staudinger/Rolfs (2024) BGB § 576b Rn. 29; Schmidt-Futterer/Herrlein, 16. Aufl. 2024, BGB § 576b Rn. 24; BeckOK BGB/Hannappel/Caspers, 73. Ed. 01.02.2025, BGB § 576b Rn. 17).
Nach einer abweichenden Auffassung sind hingegen auch in solchen Fällen die Arbeitsgerichte zuständig (Lützenkirchen, Mietrecht, 3. Aufl. 2021, § 576b BGB Rn. 11; Riecke, ZMR 2017, 859, 860).
cc) Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls nicht als extremer Verstoß gegen die Zuständigkeitsordnung anzusehen, dass das Arbeitsgericht sich als nicht zuständig angesehen hat.
Die Klage betrifft Ansprüche wegen der Nutzung der Räume nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit eine Konstellation, über die das Bundesarbeitsgericht noch nicht abschließend entschieden hat.
dd) Die Berufungsentscheidung des Landesarbeitsgerichts BerlinBrandenburg im vorangegangenen Räumungsprozess ist entgegen der Auffassung des Amtsgerichts für den vorliegenden Rechtsstreit nicht präjudiziell.
Eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs kann nur für den jeweils geltend gemachten Streitgegenstand Bindungswirkung entfalten (BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 2020 - 9 AV 1/20, NVwZ-RR 2020, 956 Rn. 8 f.).
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts betrifft nicht denselben Streitgegenstand wie der vorliegende Rechtsstreit.
ee) Ein extremer Verstoß gegen die Zuständigkeitsordnung liegt auch nicht deshalb vor, weil sich das Arbeitsgericht nicht mit der Frage befasst hat, ob hinsichtlich der Widerklage eine Zuständigkeit der Arbeitsgerichte nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a ArbGG gegeben ist.
Eine solche Zuständigkeit käme zwar in Betracht, wenn die geltend gemachten Bauleistungen des Beklagten auf Weisung der Klägerin im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erbracht worden sind, wie der Beklagte dies in der Widerklagebegründung vorgetragen hat. Später hat er indes vorgetragen, er habe die Arbeiten zusammen mit seinem Lebensgefährten aufgrund einer schriftlich nicht fixierten Vereinbarung mit der Klägerin ausgeführt.
Vor diesem Hintergrund stellt es keinen schweren Verstoß gegen die Zuständigkeitsordnung dar, wenn auch die Entscheidung über den Widerklageanspruch den ordentlichen Gerichten zugewiesen ist.
Bacher Deichfuß Marx Rensen Crummenerl Vorinstanz: AG Berlin-Mitte, Entscheidung vom 25.02.2025 - 123 C 4444/24 -