VI ZR 361/23
BUNDESGERICHTSHOF VI ZR 361/23 Nachschlagewerk: ja BGHZ:
nein BGHR:
ja JNEU:
nein BESCHLUSS vom 12. November 2024 in dem Rechtsstreit GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 285, § 296a, § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 a) Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht unter anderem dazu, den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und - soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft - in den Gründen zu bescheiden. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht.
b) Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet.
BGH, Beschluss vom 12. November 2024 - VI ZR 361/23 - OLG Jena LG Erfurt ECLI:DE:BGH:2024:121124BVIZR361.23.0 Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. November 2024 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler sowie die Richter Dr. Klein und Böhm beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts vom 26. September 2023 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf 30.000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagten nach ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
Die schwangere Klägerin stellte sich am 13. Mai 2015 wegen Terminüberschreitung (errechneter Geburtstermin: 6. Mai 2015) im Krankenhaus der Beklagten zu 1 vor. Die ihr empfohlene Geburtseinleitung lehnte die Klägerin an diesem Tag ebenso wie am 15., 17., 20. und 23. Mai 2015 ab. Am 24. Mai 2015 erklärte sie sich mit der Einleitung der Geburt einverstanden. Im Verlauf des Geburtsgeschehens wurde die Indikation zur Durchführung einer sekundären Sectio gestellt, die von den Beklagten zu 2 und 3 durchgeführt wurde. Die Beklagte zu 4 verabreichte der Klägerin hierzu eine Spinalanästhesie, die jedoch, als die Beklagte zu 3 zum Sectio-Schnitt ansetzte, keine Wirkung zeigte. Die Klägerin schrie vor Schmerzen. Die Beklagte zu 4 stellte daraufhin auf Intubationsnarkose um. Die Sectio wurde fortgesetzt und das Kind gesund entbunden.
Die Klägerin macht, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde noch von Interesse, Behandlungsfehler bei der Spinalkanalanästhesie und bei der Kontrolle von deren Wirksamkeit geltend. Durch die nicht wirkende Anästhesie habe sie einen schmerzhaften Bauchschnitt erlitten und leide psychisch unter dem für sie traumatischen Erlebnis. Sie macht zudem geltend, nicht ordnungsgemäß und frühzeitig über die Vorteile der medikamentösen Geburtseinleitung aufgeklärt worden zu sein.
Das Landgericht hat die Klage auf der Grundlage eines geburtsmedizinischen Gutachtens abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht nach ergänzender Anhörung des geburtsmedizinischen Sachverständigen zurückgewiesen. Dabei hat es einen Behandlungsfehler bei der Verabreichung der Spinalanästhesie durch eine fehlerhafte Auswahl der Dosis und eine fehlerhafte Applikation zugunsten der Klägerin unterstellt. Hierauf komme es aber nicht an. Die Beklagte zu 3 habe die Wirksamkeit der Anästhesie ordnungsgemäß getestet, indem sie die Klägerin mittels einer chirurgischen Pinzette mit scharfen Häkchen entlang des geplanten Schnittes in den Bauch gekniffen habe. Hierauf habe die Klägerin nicht reagiert. Der - unterstellte - Anästhesiefehler habe daher trotz standardgerechten Vorgehens vor dem Setzen des Bauchschnitts nicht bemerkt werden können. Der Bewertung des Sachverhalts durch ein anästhesiologisches Gutachten bedürfe es daher nicht.
Mit ihrem im Berufungsverfahren neu gehaltenen Vortrag, nicht mit dem gebotenen Nachdruck über die positiven Wirkungen einer medikamentösen Geburtseinleitung aufgeklärt worden zu sein, unterliege die Klägerin der berufungsrechtlichen Präklusion (§ 531 Abs. 2 ZPO). Die Klägerin mache nunmehr geltend, sie hätte ihre zunächst ablehnende Haltung gegenüber einer medikamentösen Geburtseinleitung frühzeitig aufgegeben, wenn sie mit der notwendigen Deutlichkeit darauf hingewiesen worden wäre, dass diese keine erhöhte Sectio-Rate zur Folge habe, sondern im Gegenteil das Risiko einer Sectio senke. Im Widerspruch hierzu habe die Klägerin erstinstanzlich noch moniert, in unzulässiger Weise zu einer Geburtseinleitung gedrängt worden zu sein, weil andernfalls die Gefahr einer Totgeburt bestehe. Auf die drohende Gefahr einer Notsectio sei sie ebenso wenig hingewiesen worden wie darauf, dass die Einleitung der Geburt die SectioRate nicht erhöhe. Im Verhältnis zu diesem erstinstanzlichen Vortrag handele es sich bei der nunmehrigen Aufklärungsrüge um einen weiteren Streitgegenstand gemäß § 533 Nr. 2 ZPO, der nicht berücksichtigt werden könne.
Die Revision hat das Oberlandesgericht nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Klägerin rügt zu Recht, das Berufungsgericht habe ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Die Annahme des Berufungsgerichts, es bedürfe der Einholung des von der Klägerin angebotenen anästhesiologischen Gutachtens nicht, weil sich auch ein unterstellter Behandlungsfehler bei Vergabe der Spinalanästhesie nicht schadensursächlich ausgewirkt habe, verstößt gegen den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
a) Entgegen der Annahme der Nichtzulassungsbeschwerde liegt der Gehörsverstoß hier allerdings nicht bereits in dem Verzicht auf die Einholung eines anästhesiologischen Gutachtens. Zwar ist bei der Auswahl eines medizinischen Sachverständigen grundsätzlich auf die Sachkunde in dem medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das der Eingriff bzw. die zu beurteilende medizinische Frage fällt (vgl. Senat, Urteil vom 18. November 2008 - VI ZR 198/07, NJW 2009, 1209 Rn. 18; Beschlüsse vom 15. Mai 2018 - VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 14; vom 31. Mai 2016 - VI ZR 305/15, NJW 2016, 3785 Rn. 13). Diese Grundsätze stellt das Berufungsgericht jedoch nicht in Frage, sondern macht sie sich ausdrücklich zu eigen. Es kommt mit der Klägerin zu dem Ergebnis, dass die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die Spinalanästhesie von der Beklagten zu 4 standardgerecht durchgeführt wurde, nur von einem Sachverständigen auf dem Gebiet der Anästhesie zu beantworten ist. Auf die Einholung eines entsprechenden Gutachtens hat das Berufungsgericht nur deshalb verzichtet, weil es den entsprechenden Behandlungsfehler zugunsten der Klägerin unterstellt und seiner weiteren Prüfung zugrunde gelegt hat.
b) Im Rahmen dieser weiteren Prüfung ist dem Berufungsgericht jedoch ein Gehörsverstoß unterlaufen.
aa) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dieses Gebot verpflichtet das Gericht unter anderem dazu, den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und - soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft - in den Gründen zu bescheiden. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht (Senat, Beschlüsse vom 26. November 2019 - VI ZR 84/18, NJW 2020, 1594 Rn. 6; vom 27. August 2019 - VI ZR 460/17, MDR 2020, 56 Rn. 12; jeweils mwN).
bb) So verhält es sich hier. Indem das Berufungsgericht die Schadensursächlichkeit des unterstellten anästhesiologischen Behandlungsfehlers allein mit dem Argument eines ordnungsgemäß durchgeführten sog. Kneiftestes verneint, lässt es erkennen, dass es das Vorbringen der Klägerin, eine fehlerfrei vorgenommene Spinalanästhesie hätte den Schmerz ausgeschaltet, im Kern nicht erfasst hat.
Wie die Nichtzulassungsbeschwerde aufzeigt, hat die Klägerin im Berufungsverfahren zwei unterschiedliche Behandlungsfehler geltend gemacht. Zum einen habe die Beklagte zu 4 eine zu niedrig dosierte Spinalanästhesie appliziert, so dass es nicht zu einer kompletten Schmerzausschaltung gekommen sei. Zum anderen hätten die Beklagten die Wirkung der Anästhesie nicht hinreichend überprüft, bevor die Beklagten zu 2 und 3 zum Bauchschnitt angesetzt haben. Nach diesem Vorbringen hätte schon die standardgerechte Durchführung der Spinalanästhesie zu einer kompletten Schmerzausschaltung geführt und den geltend gemachten Schaden der Klägerin - ihr Schmerzempfinden beim Bauchschnitt samt anschließender Traumatisierung - verhindert. Auf die Frage, ob die Beklagten zu 2 und 3 die nur inkomplette Schmerzausschaltung bei ordnungsgemäßer Durchführung des Kneiftests hätten erkennen müssen, kommt es für die Beurteilung der Ursächlichkeit des - zeitlich vorangegangenen - unterstellten anästhesiologischen Behandlungsfehlers der Beklagten zu 4 für das Schmerzempfinden der Klägerin beim erfolgten Bauchschnitt nicht an. Wäre die Unwirksamkeit der Anästhesie beim Kneiftest erkannt worden, wäre dies vielmehr lediglich geeignet gewesen, die Kausalkette nach dem Fehler bei der Spinalanästhesie zu unterbrechen und den Schaden noch zu verhindern.
cc) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Das Berufungsgericht hätte die Schadensursächlichkeit des unterstellten anästhesiologischen Behandlungsfehlers nicht ohne Weiteres in Abrede nehmen dürfen. Es wäre vielmehr gehalten gewesen, das angebotene anästhesiologische Gutachten zu der Frage einzuholen, ob die nur inkomplette Wirkung der Spinalanästhesie auf einem Behandlungsfehler der Beklagten zu 4 beruhte.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt ferner zu Recht, dass das Berufungsgericht die von der Klägerin erhobene Rüge, nicht ordnungsgemäß über die positiven Wirkungen einer medikamentösen Geburtseinleitung aufgeklärt worden zu sein, als nach § 531 Abs. 2, § 533 Nr. 2 ZPO präkludiert angesehen und dadurch den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.
a) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat (Senat, Beschlüsse vom 1. August 2023 - VI ZR 191/22, NJW-RR 2023, 1356 Rn. 7; vom 24. September 2019 - VI ZR 517/18, NJW-RR 2020, 60 Rn. 10; vom 3. März 2015 - VI ZR 490/13, NJW-RR 2015, 1278 Rn. 7).
b) So liegt der Fall hier. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren vorgebracht, dass sie im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung über die Vorteile einer medikamentösen Geburtseinleitung gerade im Hinblick auf das zunehmende Risiko einer Sectio ihren Widerstand aufgegeben und sich für eine frühere Geburtseinleitung entschieden hätte. Dann wäre sie gar nicht erst in die Situation einer sekundär erforderlich werdenden Sectio gekommen. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts handelte es sich bei diesem Vorbringen nicht um ein neues Angriffsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO. Die Klägerin hat diesen Vortrag im Kern vielmehr bereits erstinstanzlich im Rahmen ihres nachgelassenen Schriftsatzes vom 13. September 2021 zum Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme gehalten. Ob der vom Landgericht eingeräumte Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis (§ 285 ZPO) hier geboten war (und danach gegebenenfalls eine erneute Verhandlung oder die Anordnung des schriftlichen Verfahrens erforderlich gewesen wäre), muss nicht entschieden werden. Jedenfalls bringt das Gericht, wenn es im Anschluss an eine Beweisaufnahme einen Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis einräumt, zum Ausdruck, dass es eine Stellungnahme im Termin nicht erwartet und fristgemäß erfolgten Vortrag zum Beweisergebnis berücksichtigen wird. Hieran ist es dann gebunden (Senat, Beschluss vom 21. Mai 2019 - VI ZR 54/18, NJW 2019, 2477 Rn. 9 mwN), so dass der entsprechende Vortrag auch vom Berufungsgericht nicht als neu im Sinne des § 531 Abs. 2, § 296a ZPO angesehen werden durfte.
Unbeschadet dessen handelt es sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts insoweit jedenfalls nicht um einen anderen Streitgegenstand im Verhältnis zu der auch nach Auffassung des Berufungsgerichts bereits erstinstanzlich erhobenen Rüge, nicht ordnungsgemäß über das Drohen einer Notsectio und darüber aufgeklärt worden zu sein, dass durch die Einleitung der Geburt keine erhöhte Sectio-Rate zu erwarten sei (vgl. zum Umfang des Streitgegenstands bei der ärztlichen Aufklärung Senat, Urteil vom 19. Februar 2019 - VI ZR 505/17, NJW-RR 2019, 467 Rn. 24 [in BGHZ 221, 139 nicht abgedruckt]).
Soweit die Klägerin erstinstanzlich im Rahmen ihrer Aufklärungsrüge zunächst noch vorgebracht hatte, zur Einwilligung in die medikamentöse Geburtseinleitung gedrängt worden zu sein, wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, diese Änderung des Parteivortrags der Klägerin im Rahmen der Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) im zweiten Durchgang des Berufungsverfahrens zu berücksichtigen (vgl. Senat, Beschluss vom 24. Juli 2018 - VI ZR 599/16, VersR 2019, 505 Rn. 12).
c) Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin. Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht zu einem der Klägerin günstigeren Ergebnis gelangt wäre, wenn es ihren Vortrag zu einer unzureichenden Risikoaufklärung vollständig gewürdigt hätte.
3. Die weiteren Angriffe der Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht begründet. Von einer Begründung der Entscheidung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO).
Seiters von Pentz Oehler Klein Böhm Vorinstanzen: LG Erfurt, Entscheidung vom 15.10.2021 - 10 O 633/17 OLG Jena, Entscheidung vom 26.09.2023 - 7 U 1251/21 -