AK 19/22
BUNDESGERICHTSHOF AK 19/22 BESCHLUSS vom 18. Mai 2022 in dem Ermittlungsverfahren gegen wegen versuchten Mordes u.a.
ECLI:DE:BGH:2022:180522BAK19.22.0 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschuldigten und seines Verteidigers am 18. Mai 2022 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Grundsätzen zuständigen Gericht übertragen.
Gründe:
I.
Der Beschuldigte ist am 6. November 2021 vorläufig festgenommen worden und hat sich zunächst vom Folgetag bis zum 19. Januar 2022 aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts Nürnberg vom 7. November 2021 (57 Gs 1/21 = 57 Gs 10365/21) in einstweiliger Unterbringung befunden. Seit dem 19. Januar 2022 befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft; zunächst aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Amtsgerichts Nürnberg (57 Gs 266/22) vom selben Tag und nunmehr aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 2. Mai 2022 (1 BGs 73/22).
Gegenstand des aktuellen Haftbefehls vom 2. Mai 2022 ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe am 6. November 2021 in drei Fällen (Taten 1, 2 und 4)
versucht, aus niedrigen Beweggründen, davon in zwei Fällen (Taten 1 und 4) heimtückisch, einen Menschen zu töten und jeweils tateinheitlich eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs und einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Der Haftbefehl legt dem Beschuldigten weiter zur Last, am selben Tag eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben (Tat 3). Gegenstand des Haftbefehls sind zudem die Vorwürfe, der Beschuldigte habe am 20. Dezember 2021 vorsätzlich eine andere Person körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt (Tat 5) sowie am 3. Januar 2022 rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt (Tat 6).
Der aktuelle Haftbefehl geht insofern von einer mutmaßlichen Strafbarkeit des Beschuldigten gemäß §§ 211, 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 230 Abs. 1, § 303 Abs. 1, §§ 303c, 22, 23 Abs. 1, §§ 52, 53 StGB aus.
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.
II.
Eine besondere Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO zum jetzigen Zeitpunkt ist veranlasst. Zwar befindet sich der Beschuldigte erst seit dem 19. Januar 2022 in Untersuchungshaft. In die Sechs-Monats-Frist des § 121 Abs. 1 StPO ist jedoch die Zeit seiner einstweiligen Unterbringung gemäß § 126a StPO vom 7. November 2021 bis zur Ersetzung des Unterbringungsbefehls durch einen Haftbefehl am 19. Januar 2022 einzurechnen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Oktober 2007 - III-3 Ws 357/07, NJW 2008, 867; MüKoStPO/Böhm, § 121 Rn. 23; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 121 Rn. 6; KK-StPO/ Schultheis, 8. Aufl., § 121 Rn. 7; jeweils mwN).
III.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Beschuldigte ist der ihm mit dem Haftbefehl vom 2. Mai 2022 zur Last gelegten Taten dringend verdächtig.
a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Der Beschuldigte ist muslimischen Glaubens und Anhänger einer islamistisch-salafistischen Ausprägung des Islam. Seiner radikalislamistischen Einstellung entsprechend vertritt er eine extreme Ausprägung der salafistischen Doktrin "Al-wala wa-l-bara" ("Loyalität und Lossagung"), wonach ein "rechtgläubiger" Muslim Wohlwollen und Loyalität nur solchen Menschen muslimischen Glaubens entgegenbringen dürfe, die ebenfalls ein salafistisches Islamverständnis haben, während andere Personen - Nichtmuslime und einem liberalen, modernen Islam anhängende Muslime - als "Ungläubige" beziehungsweise "Abtrünnige" zu meiden und sogar gewaltsam zu bekämpfen seien. Angesichts seiner Grundhaltung lehnt der Beschuldigte die säkulare Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie generell rechtsstaatlich und demokratisch verfasste staatliche Gemeinwesen ab.
Spätestens im Frühjahr 2021 hatte sich der Beschuldigte in seinem islamistisch-salafistischen Glaubensverständnis derart radikalisiert, dass er nunmehr beabsichtigte, selbst an einem gewaltsamen "Jihad" gegen Nichtmuslime mitzuwirken. Nachdem er zeitweilig überlegt hatte, sich hierfür in ein arabisches Land zu begeben, entschied er sich im Herbst 2021, einen eigenen Beitrag zum
"weltweiten Jihad" in Deutschland zu leisten und hier eigenständig und ohne Anbindung an eine Gruppierung eine terroristische Gewalttat zu verüben.
bb) Vor diesem Hintergrund und mit dieser Intention entschloss er sich, während einer Zugfahrt im ICE auf der Strecke zwischen P. und N. unter Einsatz eines mitgeführten Klappmessers willkürlich ausgewählte nichtmuslimische Bewohner der Bundesrepublik Deutschland zu töten. Solchen Menschen sprach er wegen ihres "Unglaubens" generell ein Lebensrecht ab; aus seiner Sicht galt es, sie zu bekämpfen und zu vernichten.
(1) Der Beschuldigte fuhr am 6. November 2021 als Fahrgast im Zug ICE 928 von P. nach N. . Gegen 9:00 Uhr stand er kurz vor dem Bahnhof S. von seinem Sitzplatz auf und begab sich zunächst in den Bereich der Gepäckablage des Großraumwaggons. Damit stand er direkt hinter dem Sitzplatz, auf dem der Zeuge H. saß. Ohne Vorwarnung und damit für den Zeugen vollkommen überraschend stach der Beschuldigte mit seinem mitgeführten Klappmesser, das eine Klingenlänge von 8,5 cm hatte, mit großer Wucht und in Tötungsabsicht wiederholt auf den Zeugen ein. Aufgrund seiner Arglosigkeit konnte dieser dem Angriff zunächst nichts entgegensetzen, sodass der Beschuldigte ihn am Kopf, am Hals sowie im Schulter- und Brustbereich mit dem Messer traf. Die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten nutzte der Beschuldigte mit seinem überraschenden Angriff bewusst aus. Dem Geschädigten gelang es dann jedoch, seine Arme schützend vor seinem Kopf und seinen Oberkörper zu halten und mit seinen Füßen nach dem Beschuldigten zu treten, sodass er diesen in einiger Entfernung von sich halten und weitere Verletzungshandlungen abwehren konnte. Der Beschuldigte erkannte daraufhin, dass er aufgrund dieser Gegenwehr den Geschädigten nicht weiter verletzen und insbesondere nicht töten konnte, weshalb er von diesem Opfer abließ.
Der Beschuldigte versetzte dem Geschädigten insgesamt mindestens acht Messerstiche. Durch die kraftvoll geführten Stiche erlitt der Zeuge eine etwa fünf Zentimeter lange Schnittverletzung am Kopf, Verletzungen an der linken Schulter, eine etwa zwei Zentimeter lange und vier Zentimeter tiefe Stichverletzung im Bereich des äußeren Schlüsselbeins sowie Abwehrverletzungen an den Unterarmen. Er wurde jedoch durch die potentiell lebensgefährdenden Messerstiche nicht akut lebensgefährlich verletzt (Tat 1).
(2) Der Beschuldigte entschloss sich nunmehr, seinem Tatplan folgend einen anderen Fahrgast des Zuges zu attackieren und zu töten. Entsprechend seiner Absicht, nur Nichtmuslime zu töten, lief er an drei männlichen Fahrgästen orientalischen Phänotyps vorbei und wandte sich dem Zeugen K. zu, der fünf Sitzreihen von dem ersten Tatopfer entfernt saß. Dieser Zeuge, der durch Schreie des Geschädigten H. bereits auf den Beschuldigten aufmerksam geworden war und registrierte, dass dieser mit einem aggressiv-entschlossenen Blick direkt auf ihn zukam, nahm eine Abwehrhaltung in seinem Sitz ein. Gleichwohl gelang es dem Beschuldigten, ihn zu attackieren. Er stach in Tötungsabsicht mit seinem Klappmesser zweimal mit großer Kraft in Richtung des Kopfes des Geschädigten und verletzte diesen durch Messerstiche am oberen Kopf sowie im linken Ohrbereich. Diese sowie weitere gegen die Brust des Opfers geführte Messerstiche des Beschuldigten drangen nur deshalb nicht tief in den Körper ein und verursachten keine lebensgefährlichen Verletzungen, weil der Geschädigte die Stichbewegungen mit den Händen abschwächen konnte. Dadurch erlitt er indes Schnittverletzungen an der linken Hand. Zudem eilte ein weiterer Fahrgast, der Zeuge Dr. B. , dem Geschädigten K. zu Hilfe. Der Beschuldigte realisierte nun, dass er aufgrund der geleisteten Gegenwehr und des Einschreitens dieses Zeugen auch den zweiten Geschädigten nicht töten konnte. Deshalb ließ er auch von diesem Tatopfer ab.
Der Geschädigte erlitt durch die beiden kraftvoll und gezielt gegen seinen Kopf geführten Messerstiche eine etwa acht Zentimeter lange Schnittwunde im Ohrbereich und eine etwa zehn Zentimeter lange Schnittwunde am Oberkopf (Tat 2).
(3) Um seinen Angriff auf Fahrgäste des Zuges fortsetzen zu können, stieß der Beschuldigte den Zeugen Dr. B.
von sich weg, wobei er sein Klappmesser weiterhin in der Hand hielt, sodass er dem Zeugen mit dem Messer eine etwa fünf Zentimeter lange Schnittverletzung an der linken Stirnseite sowie weitere Schnittverletzungen am linken Handrücken zufügte, was er zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm (Tat 3).
(4) Anschließend lief der Beschuldigte in den nächsten Wagen des Zuges.
Dort traf er auf den Zeugen W.
, der zwar bereits durch in diesen Waggon flüchtende Passagiere und deren Rufe "Messerstecher!" auf die Ereignisse aufmerksam geworden war, indes mit dem schnellen Erscheinen des Beschuldigten nicht gerechnet hatte und deshalb nicht in der Lage war, zu flüchten oder einen Angriff des Beschuldigten abzuwehren. Dies erkannte der Beschuldigte,
der dem Zeugen nunmehr in Tötungsabsicht durch kraftvoll geführte Stiche mit dem Messer multiple Verletzungen im Brust- und Bauchbereich sowie Schädelfrakturen im Stirnbereich und oberhalb des linken Ohres zufügte. Im Zuge des gegen ihn geführten Angriffs ging der Geschädigte zu Boden, woraufhin der Beschuldigte weiter auf ihn einstach. Als sich der mittlerweile blutüberströmte Geschädigte nicht mehr regte, ließ der Beschuldigte von ihm in der Annahme ab,
ihn getötet zu haben.
Durch die mindestens zwei gegen den Brust- und Bauchbereich sowie mindestens acht gegen den Kopf geführten potentiell lebensbedrohlichen Messerstiche erlitt der Geschädigte unter anderem beidseitige Kalottenfrakturen,
einen Bruch des Schläfenbeins, eine Hirnblutung, eine Gehirnerschütterung sowie Riss-Quetschwunden und Stichverletzungen im Brust- und Oberbauchbereich (Tat 4).
(5) Der Beschuldigte konnte nach einem Nothalt des Zuges im Bahnhof S. von alarmierten Polizeikräften überwältigt und festgenommen werden. Da zunächst der Verdacht bestand, der Beschuldigte habe wegen einer psychischen Erkrankung in schuldunfähigem Zustand agiert, wurde er aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts Nürnberg vom 7. November 2021 einstweilig im Bezirksklinikum R.
, einer Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, untergebracht.
cc) Am Morgen des 20. Dezember 2021 schlug der Beschuldigte im Isolierraum des Bezirksklinikums R.
dem Pfleger Pr. mit der Faust kräftig in das Gesicht, wodurch der Geschädigte länger anhaltende Nackenschmerzen erlitt und einige Zeit krankgeschrieben werden musste. Mit diesem Angriff auf die Pflegekraft wollte der Beschuldigte zum Ausdruck bringen, dass er Nichtmuslime als "Ungläubige" verachtete (Tat 5).
dd) Am Morgen des 3. Januar 2022 schlug der Beschuldigte im Isolierraum des Bezirksklinikums R.
einen Fensterflügel so lange gegen eine Wand, bis die Sicherheitsglasscheibe splitterte, zudem riss er zwei Metallstangen aus dem Fensterrahmen. Mit einer der beiden Metallstangen schlug der Beschuldigte nun gegen die ebenfalls mit Sicherheitsglas ausgestattete innere Schleusentür des Isolierzimmers, wodurch auch deren Scheibe splitterte. Insgesamt verursachte der Beschuldigte einen Sachschaden in Höhe von 5.000 € (Tat 6).
b) Der dringende Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) beruht auf Folgendem:
aa) Der Beschuldigte hat sich bislang nicht zur Sache eingelassen. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse zur islamistisch-salafistischen Haltung des Beschuldigten und zur Intention seiner Taten basieren auf Angaben von Zeugen aus seinem privaten Umfeld, auf Recherchen zu seinen Aktivitäten in sozialen Netzwerken im Internet sowie auf Auswertungen von elektronischen Speichermedien, die bei ihm sichergestellt wurden. Diese Auswertungen haben ergeben, dass der Beschuldigte über eine Vielzahl einschlägiger Text- und Videodateien verfügte, darunter Aufrufe zum "bewaffneten Jihad" und zur Begehung von Anschlägen gegen "Ungläubige", auch in Form von Messerattacken.
bb) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der Taten zum Nachteil der Geschädigten H. , K. , Dr. B.
und W.
im ICE 928 am 6. November 2021 (Taten 1 bis 4) stützt sich im Wesentlichen auf Bekundungen dieser Geschädigten, Angaben von Polizeikräften, die den Beschuldigten festnahmen,
sowie ein rechtsmedizinisches Gutachten zu den Verletzungen der Tatopfer. Die hochwahrscheinliche Annahme, dass der Beschuldigte bei seinem Einwirken auf die Tatopfer H. , K. und W.
jeweils mit Tötungsabsicht handelte,
ergibt sich aus dem äußeren Geschehensablauf.
cc) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der Tat vom 20. Dezember
(Tat 5) stützt sich auf die Bekundungen des Geschädigten Pr. sowie der bei dem Vorfall ebenfalls anwesenden Zeugen D.
und M.
.
dd) Hinsichtlich des Tatgeschehens vom 3. Januar 2022 (Tat 6) folgt der dringende Tatverdacht aus den Bekundungen der Augenzeugen Ha. und We. .
ee) Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen war der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Begehung aller sechs Taten uneinge- schränkt schuldfähig. Zwar ist ein psychiatrischer Sachverständiger aufgrund von Angaben des Beschuldigten in einer ersten Stellungnahme vom 7. November 2021 zunächst davon ausgegangen, der Beschuldigte leide unter einer paranoiden Schizophrenie. Im Rahmen der daraufhin veranlassten einstweiligen Unterbringung des Beschuldigten gemäß § 126a StPO im Bezirksklinikum R. ist indes zu Tage getreten, dass diese Diagnose sehr wahrscheinlich unzutreffend ist, zumal der Beschuldigte in Abweichung von seinen ersten Angaben nunmehr angegeben hat, direkt nach seiner Festnahme wider besseres Wissen behauptet zu haben, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt zu sein, um eine Inhaftierung in einer Justizvollzugsanstalt zu vermeiden. Daraufhin hat das Amtsgericht Nürnberg am 19. Januar 2022 den Unterbringungsbefehl aufgehoben und einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten erlassen. Im Laufe der Ermittlungen sind weitere Stellungnahmen psychiatrischer Sachverständiger eingeholt worden, die zu der - vorläufigen - Einschätzung gelangt sind, der Beschuldigte sei psychisch gesund und habe mutmaßlich eine schizophrene Erkrankung lediglich vorgetäuscht, um eine krankheitsbedingte Tatbegehung zu suggerieren und einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entgehen.
ff) Wegen weiterer Einzelheiten zu den bisherigen Beweisergebnissen, die den dringenden Tatverdacht begründen, wird auf den Haftbefehl vom 2. Mai 2022 Bezug genommen.
2. In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte hochwahrscheinlich wegen versuchten Mordes (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) in drei Fällen (Taten 1, 2 und 4), wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Tat 3), wegen vorsätzlicher Körper- verletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB (Tat 5) und wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB (Tat 6) strafbar gemacht hat.
a) Die Angriffe des Beschuldigten auf die Geschädigten H. , K. und W. (Taten 1, 2 und 4) sind mit hoher Wahrscheinlichkeit jeweils strafbar als versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
aa) Hinsichtlich der Taten zum Nachteil dieser drei Geschädigten ist bei vorläufiger Beurteilung von einer versuchten Tötung aus sonstigen niedrigen Beweggründen auszugehen. Denn der Beschuldigte erstrebte den Tod der von ihm angegriffenen Opfer, weil er der Auffassung war, dass ihnen als Nichtmuslime kein Lebensrecht zukomme und die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik zu Gunsten eines islamistischen Gemeinwesens nach den Grundsätzen der Scharia überwunden werden müsse (vgl. zum Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe bei politischer Tatmotivation BGH, Beschluss vom 15. Januar 2020 - AK 62/19, juris Rn. 12 mwN). Die Angriffe auf die Geschädigten H. und W.
(Taten 1 und 4) erfüllen zudem hoch wahrscheinlich jeweils das Mordmerkmal der Heimtücke.
Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist der Beschuldigte nicht strafbefreiend von den Tötungsversuchen zum Nachteil der Geschädigten H. ,
K. und W.
zurückgetreten. Denn hinsichtlich des Geschädigten W. ging der Beschuldigte hochwahrscheinlich davon aus, alles zu dessen Tötung Erforderliche getan zu haben, sodass der Versuch beendet war und der Beschuldigte nur durch eigene Rettungsbemühungen strafbefreiend vom Tötungsversuch hätte zurücktreten können. Hinsichtlich der Taten zum Nachteil der Geschädigten H. und K. ist gegenwärtig von fehlgeschlagenen Versuchen auszugehen, weil der Beschuldigte erkannte, dass er die Geschädigten aufgrund der geleisteten Gegenwehr nicht - wie beabsichtigt - zu töten vermochte.
bb) Bei dem vom Beschuldigten verwendeten Klappmesser handelt es sich um ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Die Angriffe auf die Geschädigten H. , K. und W.
stellen sich rechtlich als lebensgefährdende Behandlungen im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB dar.
34 b) Die Tat im Bezirkskrankenhaus R.
am 20. Dezember 2021 zum Nachteil des Geschädigten Pr. (Tat 5) ist nach gegenwärtigem Ermittlungsstand als vorsätzliche Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB zu werten. Ein Strafantrag (§ 230 Abs. 1 StGB) liegt vor; zudem hat der Generalbundesanwalt das besondere öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung bejaht.
c) Hinsichtlich des als Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB strafbaren Geschehens vom 3. Januar 2022 (Tat 6) ist ein Strafantrag (§ 303c StGB) gestellt worden.
3. Die Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts für die Strafverfolgung und des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs für den Erlass des Haftbefehls ergeben sich aus § 142a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG, § 169 Abs. 1 StPO.
a) Bei den dem Beschuldigten zur Last gelegten Verbrechen des versuchten Mordes (Taten 1, 2 und 4) handelt es sich um Katalogtaten im Sinne des § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GVG. Diese Taten vom 6. November 2021 waren nach den konkreten Umständen geeignet, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG; vgl. zum Beurteilungsmaßstab BGH, Beschlüsse vom 15. Januar 2020 - AK 62/19,
juris Rn. 16; vom 6. April 2017 - 3 StR 326/16, BGHSt 62, 102 Rn. 22; vom 24. November 2009 - 3 StR 327/09, BGHR GVG § 120 Abs. 2 Nr. 3a Sicherheit 4; Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 249 f.). Denn der Beschuldigte verübte diese Taten nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen im öffentlichen Raum gegen ihm unbekannte nichtmuslimische Personen, die aus seiner Sicht das freiheitlich-demokratische Rechts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland repräsentierten. Er versuchte sie allein deshalb zu töten, weil er die säkulare und menschenrechtsorientierte freiheitlich-demokratische Rechts- und Werteordnung Deutschlands ablehnte, Nichtmuslimen das Lebensrecht absprach und es aus einer jihadistischen Ideologie heraus für geboten hielt, gewaltsam in Deutschland für eine islamistische, am Recht der Scharia ausgerichtete Gesellschaftsordnung zu kämpfen. Die Taten erschütterten das Vertrauen der Bevölkerung darauf, in Deutschland vor gewaltsamen, auf eine Überwindung der Verfassungsordnung des Grundgesetzes abzielenden Einwirkungen geschützt zu sein.
b) Auch die für eine Übernahme der Strafverfolgung durch den Generalbundesanwalt erforderliche besondere Bedeutung des Falles im Sinne von § 120 Abs. 2 Satz 1 GVG ist hinsichtlich der Taten 1, 2 und 4 gegeben (vgl. zum diesbezüglichen Beurteilungsmaßstab BGH, Beschlüsse vom 15. Januar 2020 - AK 62/19, juris Rn. 19; vom 22. September 2016 - AK 47/16, juris Rn. 23; vom 10. Dezember 2016 - StB 33/16, juris Rn. 25; vom 13. Januar 2009 - AK 20/08, BGHSt 53, 128 Rn. 33 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 3a). Der Beschuldigte griff in Tötungsabsicht drei willkürlich ausgewählte Menschen in einem öffentlichen Verkehrsmittel an und verletzte sie zum Teil schwer, weil er ihnen als Nichtmuslimen das Lebensrecht absprach und durch deren Tötung die bundesdeutsche Staats- und Gesellschaftsordnung bekämpfen wollte. Aufgrund dessen fanden die Kapitaldelikte vom 6. November 2021 in der deutschen Öffentlichkeit bundesweit große Beachtung, zumal sich das Attentatsgeschehen einfügt in eine Reihe islamistisch motivierter Gewalttaten der letzten Jahre. Die versuchten Tötungsdelikte des Angeklagten waren daher geeignet, in der bundesdeutschen Bevölkerung ein allgemeines Gefühl der Angst vor willkürlichen Angriffen jihadistischer Gewalttäter und vor Schutzlosigkeit im öffentlichen Raum auszulösen. Zudem sind solche Taten grundsätzlich geeignet, Nachahmereffekte auszulösen. Den Messerangriffen des Beschuldigten im ICE kommt daher eine über die Verletzung der Individualrechtsgüter der geschädigten Personen hinausgehende gesamtstaatliche Bedeutung zu.
c) Die Verfolgungszuständigkeit des Generalbundesanwalts und daraus folgend die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs für den Erlass des Haftbefehls wegen der Körperverletzungsdelikte des Beschuldigten zum Nachteil der Geschädigten Dr. B.
(Tat 3) und Pr. (Tat 5) sowie das Sachbeschädigungsdelikt (Tat 6) ergibt sich aus dem Sachzusammenhang mit den versuchten Tötungsdelikten (Annexkompetenz). Diese Tatvorwürfe stehen in einem derart engen persönlichen und deliktsspezifisch-sachlichen Zusammenhang mit den Messerattacken im ICE zum Nachteil der Geschädigten H. ,
K. und W.
, dass eine getrennte Verfolgung und Aburteilung auch unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern als in hohem Maße sachwidrig erschiene (vgl.
insofern BGH, Beschlüsse vom 12. August 2021 - 3 StR 441/20, juris Rn. 14; vom 20. September 2012 - 3 StR 314/12, juris Rn. 20; vom 13. Januar 2009
- AK 20/08, BGHSt 53, 128 Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl.,
§ 120 GVG Rn. 2).
4. Es sind die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO
(vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) - der Schwerkriminalität gegeben. Es ist wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird.
Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung wegen der ihm zur Last gelegten Taten jedenfalls mit einer hohen zeitigen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen. Dem von der hohen Straferwartung ausgehenden großen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthemmenden Umstände entgegen. Insofern gilt, dass die Annahme von Fluchtgefahr kein sicheres Wissen um die sie begründenden Tatsachen erfordert; es genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie bei der Annahme des dringenden Tatverdachts (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2018 - StB 43 u. 44/18, juris Rn. 37; vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 11).
Der gegenwärtig 27 Jahre alte ledige und kinderlose Beschuldigte wuchs in Syrien auf und lebte dort bis 2013; er kam erst im Oktober 2014 nach Deutschland. Hier war er vor seiner Verhaftung nicht integriert. Er ging keiner beruflichen Tätigkeit nach, sondern lebte überwiegend von Sozialleistungen. Zudem verfügt er in der Bundesrepublik über keine gefestigten sozialen Beziehungen, die ihn von einer Flucht in das Ausland abhalten könnten. Zwar leben seine Eltern und einige seiner Geschwister in Deutschland. Doch hielt ihn dies in der Vergangenheit nicht davon ab, sich vor dem Hintergrund seiner Ablehnung der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung ernsthaft mit dem Gedanken zu befassen, Deutschland zu verlassen und in ein islamisches Land überzusiedeln.
Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.
5. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Der besondere Umfang der Ermittlungen hat ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigt den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Das Verfahren ist bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
Die Ermittlungen waren und sind besonders umfangreich und zeitaufwendig. Insgesamt sind im Ermittlungsverfahren bislang über 200 Zeugen vernommen worden, neben den unmittelbar Geschädigten etliche weitere Zuginsassen, Familienangehörige des Beschuldigten sowie weitere Kontaktpersonen, zumal es nicht nur gilt, das unmittelbare Tatgeschehen aufzuklären, sondern auch die (politische und religiöse) Motivation des Beschuldigten zu erhellen. Bei Durchsuchungsmaßnahmen, die nicht nur gegen den Beschuldigten, sondern auch gegen Kontaktpersonen gerichtet gewesen sind, sind Kommunikationsmittel, elektronische Speichermedien und schriftliche Unterlagen sichergestellt worden, deren Auswertung sich zum Teil als aufwendig dargestellt hat und weiterhin fortdauert. Zur Frage der Schuldfähigkeit des Beschuldigten sind (vorläufige) Stellungnahmen mehrerer psychiatrischer Sachverständiger eingeholt worden; zudem sind weitere psychiatrische Gutachten in Auftrag gegeben worden, mit deren Vorlage in Kürze gerechnet wird. Der Generalbundesanwalt hat mitgeteilt, zeitnah Anklage gegen den Beschuldigten erheben zu wollen.
6. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungs- interesse der Allgemeinheit andererseits derzeit nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Schäfer Paul Kreicker