VIa ZR 541/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 541/22 URTEIL in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2025:180325UVIAZR541.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. März 2025 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Vogt-Beheim, die Richter Messing und Dr. F. Schmidt für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 1. April 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage betreffend eine deliktische Schädigung des Klägers durch das Inverkehrbringen des im Klageantrag zu 1 näher bezeichneten Fahrzeugs abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 80.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch. Er erwarb im Jahr 2016 von einem Dritten einen neuen Mercedes-Benz 250d, Marco Polo Edition, der mit einem Motor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist.
Der Kläger hat Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 69.105,68 € sowie die Erstattung vorgerichtlicher Kosten in Höhe von 2.082,15 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie die Feststellung des Annahmeverzugs begehrt. Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen nur zur Zahlung von 51.580,20 € und vorgerichtlichen Kosten von 1.954,46 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs verurteilt und den Annahmeverzug festgestellt. Die Berufung des Klägers, mit der er die weitergehende Verurteilung der Beklagten nach seinen erstinstanzlich gestellten Anträgen begehrt hat, ist erfolglos geblieben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht unter teilweiser Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung die Klage abgewiesen. Mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge betreffend eine deliktische Schädigung weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Dem Kläger stehe kein Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB zu. Insofern könne dahinstehen, ob es sich bei der AdBlue-Dosierung und dem Thermofenster jeweils um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handele. Es fehle jedenfalls an der objektiven Sittenwidrigkeit und dem Schädigungsvorsatz. Hinsichtlich der AdBlue-Dosierung ergebe sich aus einer Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA), dass die effektivste Strategie nicht ausschließlich auf dem Prüfstand, sondern bei gleichen Bedingungen im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise wirke. Eine besondere Verwerflichkeit der Ausgestaltung der AdBlue-Dosierung könne auch nicht deswegen festgestellt werden, weil - wie der Kläger behaupte - die Beklagte aufgrund einer Kartellabsprache bewusst und aus rücksichtslosem Gewinnstreben einen (zu) kleinen AdBlue-Tank eingebaut und durch die Eingriffe in die Motorsteuerung dafür gesorgt habe, dass unter normalen Betriebsbedingungen nicht die zur Einhaltung der Abgasgrenzwerte erforderliche Menge an AdBlue eingespritzt werde. Denn die Beklagte sei diesem Vortrag entgegengetreten. Soweit das Landgericht angenommen habe, der Vortrag sei "unwidersprochen geblieben", stelle dies eine gerichtliche Wertung des Tatsachenvortrags der Beklagten dar, der keine Bindungswirkung nach § 314 ZPO zukomme. Zum Thermofenster könne ein Prüfstandsbezug nicht angenommen werden, weil der Kläger vorgetragen habe, die Abgasrückführung werde erst bei einer Außentemperatur von 7 Grad Celsius reduziert, während die Temperatur auf dem Prüfstand durchgängig zwischen 20 und 30 Grad Celsius betrage. Der Klägervortrag zur Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung begründe ebenfalls mangels Prüfstandsbezogenheit keinen entsprechenden Anspruch. Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV schieden aus. Das Interesse nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liege nicht im Schutzbereich dieser Bestimmungen.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Es begegnet im Ergebnis keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat.
a) Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend eine Beweiskraft des Tatbestands hinsichtlich der Feststellung im erstinstanzlichen Urteil verneint, die Beklagte habe nach dem "unwidersprochen gebliebenen" Vortrag des Klägers aufgrund einer Kartellabsprache zu kleine Tanks für die Harnstofflösung AdBlue verbaut, um Platz und Kosten zu sparen, und im gleichen Zuge die Dosierung der Harnstofflösung angepasst und unter das zur NOx-Neutralisation erforderliche Maß reduziert, um den Kunden ein häufiges Nachtanken zu ersparen.
Es kann dahinstehen, ob die Feststellung des Landgerichts, der Vortrag sei "unwidersprochen geblieben" eine Sachverhaltsmitteilung darstellt, für die die Beweiswirkung des § 314 Satz 1 ZPO grundsätzlich gilt. Dem Tatbestand kommt jedenfalls dann keine Beweiskraft zu, wenn und soweit er Widersprüche, Lücken oder Unklarheiten aufweist, die sich aus dem Urteil selbst ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2021 - I ZR 137/20, MDR 2022, 114 Rn. 28 mwN). Entsprechende Unklarheiten ergeben sich aus dem landgerichtlichen Urteil. Es hat den Vortrag des Klägers, die Beklagte habe aufgrund einer kartellrechtswidrigen Absprache zu kleine Tanks für die Harnstofflösung AdBlue verbaut, um Platz und Kosten zu sparen, und im gleichen Zuge die Dosierung der Harnstofflösung angepasst und unter das zur NOx-Neutralisation erforderliche Maß reduziert, als unwidersprochen bezeichnet. Es hat gleichzeitig streitigen Vortrag der Beklagten festgestellt, mit dem diese ausführlich erläutert, warum die Dosierung des Wirkstoffs AdBlue nicht zu beanstanden und die darauf bezogene Anordnung des KBA rechtswidrig sei. Letzteres steht im Widerspruch zu dem vom Landgericht als unstreitig angenommenen Vortrag zu einer strategisch und bewusst verwendeten unzulässigen Abschalteinrichtung zum Nachteil der Käufer.
b) Die zu der Verneinung des Anspruchs aus §§ 826, 31 BGB erhobenen Verfahrensrügen der Revision hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 Satz 1 ZPO).
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger- nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20).Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Das Berufungsurteil ist demnach im tenorierten Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Messing Möhring Vogt-Beheim F. Schmidt Vorinstanzen: LG Offenburg, Entscheidung vom 30.09.2019 - 3 O 474/18 OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 01.04.2022 - 4 U 90/22 - Verkündet am: 18. März 2025 Wendt, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle