VII ZR 460/21
BUNDESGERICHTSHOF VII ZR 460/21 IM NAMEN DES VOLKES URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 11. August 2022 Boppel, Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2022:110822UVIIZR460.21.2 Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat gemäß § 128 Abs. 2 ZPO im schriftlichen Verfahren, in dem Schriftsätze bis zum 24. Juni 2022 eingereicht werden konnten, durch den Vorsitzenden Richter Pamp, die Richter Dr. Kartzke und Prof. Dr. Jurgeleit sowie die Richterinnen Dr. Brenneisen und Dr. C. Fischer für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 7a. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 21. April 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionsinstanz, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Streitwert: bis 22.000 €
Von Rechts wegen Tatbestand: 1 Die Klägerin nimmt die beklagte Motorenherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch. 2 Sie erwarb im Januar 2012 von einem Autohändler ein Fahrzeug Seat AIhambra Style 2.0 TDI als Neuwagen zum Preis von 29.192,44 € netto.
Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs EA 189 ausgestattet. Der Motor enthält eine umschaltfähige Steuerelektronik, die es ermöglicht, Stickoxidemissionen auf dem Prüfstand im Vergleich zum realen Fahrbetrieb zu optimieren, um die von der Euro-5-Abgasnorm vorgegebenen NOx-Grenzwerte einzuhalten. Im NOx-optimierten Modus 1 (Prüfmodus), der im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) aktiv ist, kommt es dabei zu einer höheren Abgasrückführungsrate. Während des Normalbetriebs im gewöhnlichen Straßenverkehr schaltet die Software dagegen durchgehend in den Modus 0 um, der einen höheren Stickoxidausstoß bewirkt.
Mit einer Ad-hoc- und einer Pressemitteilung vom 22. September 2015 gab die Beklagte bekannt, dass die von ihr hergestellten Dieselmotoren des Typs EA 189 wegen Unregelmäßigkeiten nachgebessert werden müssten und die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Dieselfahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden sei. Ab Anfang Oktober 2015 wurde den Kunden angeboten, die Betroffenheit ihres Fahrzeugs mittels einer gebührenfreien KundenInfoline oder durch Eingabe der Fahrzeug-Identifizierungsnummer auf einer Internetseite zu prüfen. In weiteren Pressemitteilungen von Oktober bis Dezember 2015 informierte die Beklagte die Öffentlichkeit jeweils über den Stand der Angelegenheit, wobei die ersten Fahrzeuge ab Januar 2016 im Rahmen eines Rückrufs nachgerüstet werden sollten. Zudem war der sogenannte VW-Abgasskandal Gegenstand einer umfangreichen Medienberichterstattung, die sich auch mit den betroffenen Fahrzeugmodellen unter Angabe des jeweiligen Baujahres befasste.
Mit ihrer am 19. Dezember 2019 eingegangenen und am 17. Februar 2020 zugestellten Klage hat die Klägerin die Erstattung des Kaufpreises nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs gegen Zahlung einer angemessenen Nutzungsentschädigung, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren verlangt. Einen mit gerichtlicher Verfügung vom 14. Januar 2020 nachgeforderten Gerichtskostenvorschuss hat die Klägerin am 10. Februar 2020 eingezahlt. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben. 5 Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Schlussanträge aus der Berufungsinstanz weiter.
Entscheidungsgründe: 6 Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. 7 Das Berufungsgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - ausgeführt, dem Schadensersatzanspruch der Klägerin stehe die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Die für den Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren erforderliche Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen habe die Klägerin bereits im Jahr 2015 erlangt. Die Beklagte habe ausführlich und nachvollziehbar unter Bezugnahme auf ihre Ad-hoc- und Pressemitteilung vom 22. September 2015, die Medienberichterstattung sowie die mit einer weiteren Pressemitteilung bekannt gemachte Möglichkeit der Online-Ermittlung - auch bezüglich Marken der Tochterunternehmen wie Seat - dargelegt, dass die Klägerin seit Herbst 2015 über die erforderlichen Kenntnisse für eine erfolgversprechende Klageerhebung verfügt habe beziehungsweise eine Unkenntnis auf grober Fahrlässigkeit beruht hätte, ohne dass die Klägerin dem in rechtlich oder tatsächlich erheblicher Weise entgegengetreten sei. Die Klägerin habe keine substanziellen Umstände dafür aufgezeigt, dass sie aufgrund besonderer persönlicher Umstände, etwa aufgrund eines längeren Auslands- oder Krankenhausaufenthalts oder Ähnlichem, von der massiven Berichterstattung in allen Medien nichts mitbekommen habe oder außer Stande gewesen sei, die Betroffenheit ihres Fahrzeugs zu prüfen. Eine Hemmung der Verjährung vor Ablauf der Verjährungsfrist Ende 2018 sei nicht erfolgt, da die Klageschrift der Beklagten erst am 17. Februar 2020 zugestellt worden sei.
II. 8 Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. 9 Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht wegen Verjährung abgewiesen werden. 10 1. Gemäß § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre.
Sie beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Hierzu genügt es in Fällen der vorliegenden Art, dass der geschädigte Fahrzeugkäufer Kenntnis vom sogenannten Dieselskandal im Allgemeinen, von der konkreten Betroffenheit seines Fahrzeugs und von der Relevanz dieser Betroffenheit für seine Kaufentscheidung hat, wobei letztere Kenntnis nicht gesondert festgestellt werden muss, sondern naturgemäß beim Geschädigten vorhanden ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 - VII ZR 365/21 Rn. 17 m.w.N., NJW 2022, 1311).
2. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht eine jedenfalls grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin von der konkreten Betroffenheit ihres Fahrzeugs im Zeitraum bis Ende 2015 angenommen.
a) Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 BGB liegt dann vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder dasjenige nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung vorgeworfen werden können (BGH, Urteil vom 17. März 2022 - III ZR 226/20 Rn. 18, WM 2022, 984; Urteil vom 21. Februar 2022 - VIa ZR 8/21 Rn. 39, WM 2022, 731; Urteil vom 10. Februar 2022 - VII ZR 396/21 Rn. 23 m.w.N., MDR 2022, 558).
Den Geschädigten trifft dabei im Allgemeinen weder eine Informationspflicht noch besteht für ihn eine generelle Obliegenheit, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. Inwieweit der Gläubiger zur Vermeidung der groben Fahrlässigkeit zu einer aktiven Ermittlung gehalten ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Das Unterlassen einer solchen Ermittlung ist nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Gläubigers als unverständlich erscheinen lassen. Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein, so dass er aus verständiger Sicht gehalten ist, die Voraussetzungen des Anspruchs aufzuklären, soweit sie ihm nicht ohnehin bekannt sind (BGH, Urteil vom 17. März 2022 - III ZR 226/20 Rn. 18, WM 2022, 984; Urteil vom 21. Februar 2022 - VIa ZR 8/21 Rn. 41, WM 2022, 731; Urteil vom 10. Februar 2022 - VII ZR 396/21 Rn. 25 m.w.N., MDR 2022, 558).
b) Nach diesen Maßstäben war die Klägerin, bei der insoweit gemäß § 166 BGB i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 1 GmbHG auf die Person ihres alleinigen Geschäftsführers abzustellen ist, nicht bereits im Jahr 2015 zur Vermeidung des Vorwurfs grober Fahrlässigkeit gehalten zu ermitteln, ob ihr Fahrzeug vom sogenannten Dieselskandal betroffen war.
Selbst wenn es dem Geschäftsführer der Klägerin, wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist, noch in dem verbleibenden - kurzen - Zeitraum seit Bekanntwerden des sogenannten Dieselskandals und der Freischaltung der OnlinePlattform im Oktober 2015 bis zum Jahresende möglich gewesen sein sollte, die Betroffenheit des eigenen Fahrzeugs zu ermitteln, liegt darin, dass der Geschäftsführer der Klägerin in dem genannten Zeitraum hiervon keinen Gebrauch machte, kein schwerwiegender Obliegenheitsverstoß in eigenen Angelegenheiten. Mit Rücksicht darauf, dass die Beklagte seit September 2015 mit zahlreichen Informationen an die Öffentlichkeit getreten war und auch weitere Erklärungen angekündigt hatte, war ein Zuwarten des Geschäftsführers der Klägerin zumindest bis zum Ende des Jahres 2015 nicht schlechterdings unverständlich (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 2022 - III ZR 226/20 Rn. 22, WM 2022, 984; Urteil vom 10. Februar 2022 - VII ZR 396/21 Rn. 27, MDR 2022, 558).
III.
Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO).
1. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls zum Ende 2016 von einer grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 BGB und somit von einer Verjährung mit Ablauf des Jahres 2019 auszugehen (vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Mai 2022 - VIa ZR 441/21 Rn. 14 f., NJW 2022, 2028; Urteil vom 10. Februar 2022 - VII ZR 679/21, juris Rn. 29 ff.).
2. Entgegen der Auffassung des Landgerichts wurde die Verjährung allerdings noch im Jahr 2019 durch Erhebung der Klage nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen wirkt die am 17. Februar 2020 erfolgte Zustellung der Klage gemäß § 167 ZPO auf den Zeitpunkt ihres Eingangs am 19. Dezember 2019 zurück.
a) Soll durch die Zustellung die Verjährung nach § 204 BGB gehemmt werden, tritt diese Wirkung nach § 167 ZPO bereits mit Eingang des Antrags oder der Erklärung ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Der Begriff "demnächst" ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Wege einer wertenden Betrachtung ohne eine absolute zeitliche Grenze auszulegen. Die Parteien sollen vor Nachteilen durch Verzögerungen innerhalb des gerichtlichen Geschäftsbetriebs bewahrt werden, weil die Zustellung von Amts wegen geschieht und von ihnen nicht beeinflusst werden kann. Dies gilt auch dann, wenn es zu mehrmonatigen Verzögerungen kommt. Denn Verzögerungen im Zustellungsverfahren, die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung des Gerichts verursacht sind, muss sich die Partei, der die Fristwahrung obliegt, grundsätzlich nicht zurechnen lassen (BGH, Urteil vom 21. März 2022 - VIa ZR 275/21 Rn. 17,
WM 2022, 745; Urteil vom 25. Februar 2021 - IX ZR 156/19 Rn. 18, NJW 2021, 1598; Urteil vom 1. Oktober 2019 - II ZR 169/18 Rn. 9 f., juris; Urteil vom 11. Februar 2011 - V ZR 136/10 Rn. 6, NZM 2011, 752; Urteil vom 31. Oktober 2000 - VI ZR 198/99, BGHZ 145, 358, juris Rn. 20).
Der Partei sind jedoch solche nicht nur geringfügigen Verzögerungen zurechenbar, zu denen sie oder ihr Prozessbevollmächtigter (§ 85 Abs. 2 ZPO) durch nachlässiges - auch leicht fahrlässiges - Verhalten beigetragen haben und die sie bei gewissenhafter Prozessführung hätten vermeiden können (BGH, Urteil vom 25. Februar 2021 - IX ZR 156/19 Rn. 19, NJW 2021, 1598; Urteil vom 12. September 2019 - IX ZR 262/18 Rn. 23, WM 2019, 2019; Urteil vom 12. Juli 2006 - IV ZR 23/05 Rn. 18, BGHZ 168, 306; BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 2012 - 1 BvR 509/11, NJW 2012, 2869, juris Rn. 13). Maßgeblich ist dabei, um wie viele Tage sich der für die Zustellung der Klage ohnehin erforderliche Zeitraum infolge der Nachlässigkeit verzögert hat (BGH, Urteil vom 10. Dezember 2019 - II ZR 281/18 Rn. 8, WM 2020, 276; Urteil vom 10. Juli 2015 - V ZR 154/14 Rn. 6, NJW 2015, 2666; Urteil vom 10. Februar 2011 - VII ZR 185/07 Rn. 8, BauR 2011, 885 = NZBau 2011, 485). Dem Zustellungsveranlasser zuzurechnende Verzögerungen von bis zu 14 Tagen sind regelmäßig geringfügig und bleiben deshalb außer Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2022 - VIa ZR 275/21 Rn. 18, WM 2022, 745; Urteil vom 25. Februar 2021 - IX ZR 156/19 Rn. 19, NJW 2021, 1598; Urteil vom 10. Dezember 2019 - II ZR 281/18 Rn. 8, WM 2020, 276; Urteil vom 10. September 2015 - IX ZR 255/14 Rn. 15, NJW 2016, 151).
b) Nach diesen Grundsätzen liegt keine der Klägerin zuzurechnende erhebliche Verzögerung der Klagezustellung vor.
22 Ausgehend von der am 14. Januar 2020 verfügten Nachforderung des weiteren Gerichtskostenvorschusses, die nach Aktenlage am 16. Januar 2020 versandt wurde, einer üblichen Postlaufzeit von drei Werktagen, einer Prüfungsund Weiterleitungsfrist von weiteren drei Werktagen (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 2017 - V ZR 103/16 Rn. 13 f., NJW-RR 2018, 461; Beschluss vom 10. Juli 2015 - V ZR 154/14 Rn. 8, NJW 2015, 2666) sowie einer Erledigungsfrist von einer weiteren Woche (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2019 - II ZR 281/18 Rn. 11, WM 2020, 276; Urteil vom 17. Mai 2019 - V ZR 34/18 Rn. 9, NJW-RR 2019, 976), war der Eingang des weiteren Kostenvorschusses nicht vor dem 30. Januar 2020 zu erwarten. Dass der Vorschuss tatsächlich erst am 10. Februar 2020 bei Gericht einging, bleibt somit als geringfügige Verzögerung außer Betracht.
IV. 23 Das angefochtene Urteil war daher nach § 562 ZPO aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Pamp Brenneisen Kartzke C. Fischer Jurgeleit Vorinstanzen: LG Stade, Entscheidung vom 16.06.2020 - 1 O 369/19 OLG Celle, Entscheidung vom 21.04.2021 - 7 U 897/20 (S. 7a) -