VIa ZR 1712/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 1712/22 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 19. März 2024 Neumayer Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:190324UVIAZR1712.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2024 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Krüger, Wille und den Richter Liepin für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 24. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 29. November 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht hinsichtlich einer deliktischen Schädigung der Klägerin durch das Inverkehrbringen des erworbenen Fahrzeugs zu ihrem Nachteil erkannt hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der in der Folgezeit verstorbene Ehemann der Klägerin kaufte am 11. August 2014 von der Beklagten einen von ihr hergestellten neuen Mercedes-Benz GLK 200 CDI, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung temperaturabhängig gesteuert und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" bei Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert. Das Fahrzeug verfügt über eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), die durch den Einsatz einer Kühlung die Erwärmung des Motoröls verzögert.
Die Klägerin hat die Beklagte unter den Gesichtspunkten der kaufrechtlichen Gewährleistung und der deliktischen Schädigung ihres Ehemanns durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs in Anspruch genommen. Sie hat den Ersatz des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs begehrt.
Das Landgericht hat der Klage unter Abweisung im Übrigen in Höhe eines Teilbetrags Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Berufung der Klägerin, mit der sie den Ersatz von 25% des Kaufpreises nebst Prozesszinsen verlangt und hilfsweise ihren erstinstanzlichen Klageantrag weiterverfolgt hat, hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht insoweit zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge weiter, soweit sie diese auf die deliktische Schädigung ihres Ehemanns durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs stützt.
Entscheidungsgründe:
Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der Klägerin stehe - ihre Aktivlegitimation als Erbin ihres Ehemanns unterstellt - kein deliktischer Anspruch auf Ersatz des mit dem Hauptantrag begehrten "kleinen" Schadensersatzes oder des mit dem Hilfsantrag verlangten "großen" Schadenersatzes zu. Ein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB scheide aus, weil die Klägerin die Voraussetzungen für eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung unterstellt - nicht schlüssig behauptet habe. Sie habe weder tatsächliche Anhaltspunkte für eine prüfstandsbezogene Ausgestaltung des Thermofensters oder der KSR noch weitere Umstände vorgetragen, die auf ein besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten schließen lassen könnten. Eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheitere bereits daran, dass die Vorschriften der EG-FGV keine Gesetze seien, die das individuelle Interesse schützten, kein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat, weil es dem Vortrag der Klägerin keine greifbaren Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten entnommen hat. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen, das Berufungsgericht habe Vorbringen der Klägerin zum manipulativen Einsatz des Thermofensters und der KSR nicht angemessen berücksichtigt, hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung des mit dem Hauptantrag begehrten sogenannten "kleinen" Schadensersatzes oder des mit dem Hilfsantrag verlangten sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27 sowie Rn. 73 bis 79). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass der Klägerin aus übergegangenem Recht ihres Ehemanns (§ 1922 Abs. 1 BGB) nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, NJW 2024, 361 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Das angefochtene Urteil ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann die erforderlichen Feststellungen zur Aktivlegitimation der Klägerin sowie nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) zur Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Wille Möhring Liepin Krüger Vorinstanzen: LG Stuttgart, Entscheidung vom 06.05.2022 - 17 O 826/21 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 29.11.2022 - 24 U 1623/22 -