AnwZ (Brfg) 11/25
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS AnwZ (Brfg) 11/25 vom
11. August 2025 in der verwaltungsrechtlichen Anwaltssache wegen Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem Rügebescheid u.a. ECLI:DE:BGH:2025:110825BANWZ.BRFG.11.25.0 Der Bundesgerichtshof, Senat für Anwaltssachen, hat durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, den Richter Dr. Remmert, die Richterin Dr. Liebert sowie die Rechtsanwälte Dr. Lauer und Prof. Dr. Schmittmann am 11. August 2025 beschlossen:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das am 6. Februar 2025 verkündete Urteil des 4. Senats des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Der Wert des Zulassungsverfahrens wird auf 250 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus dem Rügebescheid der Beklagten vom 31. Oktober 2019 und zur Herausgabe dieses Bescheides, des Gebührenbescheides der Beklagten vom 21. Januar 2021 sowie des Beschlusses des Anwaltsgerichts München vom 27. November 2020
. Er begehrt des Weiteren die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Rügebescheid vom 31.
Oktober 2019.
Der Kläger ist seit 1971 Rechtsanwalt und Mitglied der Beklagten. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2019 erteilte die Beklagte ihm eine Rüge. Zur Begründung führte sie aus, gemäß § 43 BRAO, § 14 BORA sei ein Rechtsanwalt verpflichtet, ordnungsgemäße Zustellungen von Gerichten, Behörden und Rechtsanwälten entgegenzunehmen und das Empfangsbekenntnis mit dem Datum versehen unverzüglich zu erteilen. Das vom Kläger an das Amtsgericht S.
am 4. September 2019 per Telefax übermittelte Schreiben stelle keine Erteilung eines Empfangsbekenntnisses dar. Weder habe er das Empfangsbekenntnis datiert noch unterzeichnet. Vielmehr lasse der vom Kläger unterzeichnete Vermerk deutlich erkennen, dass er gerade keinen Empfangswillen habe. Dem lag zugrunde, dass das Amtsgericht S.
die beglaubigte Abschrift eines Beschlusses an den Kläger mit einem vorgedruckten Empfangsbekenntnis übermittelt hatte. Der Kläger schrieb handschriftlich auf das Empfangsbekenntnis, dass er den Beschluss nicht entgegennehme, da er unzumutbar sei. Er unterschrieb diesen handschriftlichen Vermerk mit seinem Namen und übermittelte den Vordruck an das Amtsgericht S.
.
Den vom Kläger gegen den Rügebescheid eingelegten Einspruch wies die Beklagte mit Beschluss vom 7. April 2020 zurück. Den hiergegen gestellten Antrag des Klägers auf anwaltsgerichtliche Entscheidung wies das Anwaltsgericht München mit Beschluss vom 27. November 2020 als unbegründet zurück. Die vom Kläger dagegen erhobene "Anhörungsrüge gemäß §§ 116 I BRAO, 33a StPO" wurde vom Anwaltsgericht München mit Beschluss vom 5. Januar 2021 in eine Beschwerde gemäß § 74a BRAO, § 311a StPO umgedeutet, der nicht abgeholfen wurde. Der Bayerische Anwaltsgerichtshof wies mit Beschluss vom
2. Juli 2021 die vom Anwaltsgericht als Beschwerde behandelte Anhörungsrüge des Klägers zurück.
Am 21. Januar 2021 erließ die Beklagte gegen den Kläger einen Gebührenbescheid in einer Gesamthöhe von 250 €. Zur Begründung führte sie aus, die Gebühr für die Erteilung der Rüge vom 31. Oktober 2019 betrage gemäß Art. 10 Nr. 1 ihrer Gebührenordnung 125 €. Gemäß Art. 10 Nr. 2 der Gebührenordnung betrage die Gebühr für die Zurückweisung des Einspruchs weitere 125 €. Beide Bescheide seien zwischenzeitlich bestandskräftig.
Der Kläger trägt vor, der Gebührenbescheid der Beklagten vom 21. Januar 2021 sei aufzuheben, da die ihm von der Beklagten erteilte Rüge auf einer klaren Tatbestandsverfälschung beruhe und deshalb auch die Entscheidung des Anwaltsgerichts vom 27. November 2020 aufgehoben werden müsse. Er meint, es seien die Voraussetzungen für die Durchbrechung der Rechtskraft bei Urteilsmissbrauch gemäß § 826 BGB bei sachlich unrichtigen Urteilen gegeben. Die Bescheide der Beklagten seien unwiderlegbar falsch und rechtsmissbräuchlich erwirkt worden. Gleiches gelte für den Beschluss des Anwaltsgerichts.
Der Anwaltsgerichtshof hat die Klage abgewiesen. Der Kläger beantragt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Anwaltsgerichtshofs.
II.
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO ist nicht gegeben (vgl. § 112e Satz 2 BRAO, § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen nicht (§ 112e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des angefochtenen Urteils mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird. Zweifel an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen füllen den Zulassungsgrund dann nicht aus, wenn sie nicht die Richtigkeit des Ergebnisses erfassen (st. Rspr.; Senat, Beschluss vom 27. September 2023 - AnwZ (Brfg) 18/23, NJW-RR 2023, 1609 Rn. 3 mwN).
a) Der Anwaltsgerichtshof ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger die Voraussetzungen für eine Rechtskraftdurchbrechung auf der Grundlage von § 826 BGB nicht ausreichend dargetan und bewiesen hat.
aa) Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung bietet § 826 BGB dem Schuldner unter besonderen Umständen die Möglichkeit, sich gegen die Vollstreckung aus einem rechtskräftigen, aber materiell unrichtigen Titel zu schützen. Die Rechtskraft muss zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt. Eine solche Anwendung des § 826 BGB muss jedoch auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, weil jede Ausdehnung das Institut der Rechtskraft aushöhlen, die Rechtssicherheit beeinträchtigen und den Eintritt des Rechtsfriedens in untragbarer Weise in Frage stellen würde. Erste Voraussetzung einer Anwendung des § 826 BGB ist die materielle Unrichtigkeit des Titels. Zudem muss der Titelgläubiger die Unrichtigkeit des Titels kennen. Beim Streit über die Zulässigkeit einer künftigen Vollstreckung genügt es jedoch, wenn ihm diese Kenntnis erst durch das zur Entscheidung über den Anspruch aus § 826 BGB berufene Gericht vermittelt wird. Schließlich müssen besondere Umstände hinzutreten, aufgrund deren es dem Gläubiger zugemutet werden muss, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben. Die Umstände, auf denen die materielle Unrichtigkeit des Titels beruht, genügen allein in aller Regel nicht, um zugleich auch die Sittenwidrigkeit der Vollstreckung zu begründen. Die geforderten besonderen Umstände müssen vielmehr zur Unrichtigkeit hinzutreten; nur wenn zusätzliche Umstände die Art und Weise der Titelerlangung oder der Vollstreckung in sittenwidriger Weise prägen, muss die Rechtskraft zurücktreten (vgl. nur BGH, Urteil vom 24. September 1987 - III ZR 187/86, BGHZ 101, 380, 383 ff.; Beschluss vom 26. April 2023 - IV ZB 11/22, FamRZ 2023, 1241 Rn. 19 mwN).
Der Anspruch aus § 826 BGB geht in derartigen Fällen auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und (oder) Herausgabe des Vollstreckungstitels (BGH, Urteile vom 27. Mai 1963 - III ZR 165/62, NJW 1963, 1606, 1608 und vom 5. März 1958 - IV ZR 307/57, BGHZ 26, 391, 394). Die Vorschrift des § 826 BGB ist auch im Verwaltungsrecht als positivrechtliche Grundlage für den Einwand des sittenwidrigen Urteilsmissbrauchs - beschränkt auf besonders gewichtige Fälle - entsprechend anwendbar (BVerwG, BVerwGE 148, 254 Rn. 21 mwN).
bb) Die Voraussetzungen von § 826 BGB als Grundlage für die Durchbre12 chung der Rechtskraft des den Antrag des Klägers auf anwaltsgerichtliche Entscheidung gegen den Zurückweisungsbescheid der Beklagten vom 7. April 2020 zurückweisenden Beschluss des Anwaltsgerichts München vom 27. November 2020 sind vom Kläger nicht dargetan und bewiesen.
Der Senat hat den Vortrag des Klägers in der Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung vom 18. Februar 2025 und seinen zahlreichen nachfolgenden Schriftsätzen zur Kenntnis genommen und auf die vorgenannten Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB geprüft. Der Vortrag des Klägers betreffend das von ihm an das Amtsgericht S.
übermittelte Empfangsbekenntnis als Anlass für den Rügebescheid der Beklagten vom 31. Oktober 2019 und die diesem Vortrag zugrunde liegenden Umstände vermögen jedoch allenfalls eine von den - vom Anwaltsgericht zur Begründung seines Beschlusses in Bezug genommenen - Bescheiden der Beklagten vom 31. Oktober 2019 und
7. April 2020 abweichende rechtliche Wertung im Hinblick auf eine Pflichtverletzung des Klägers gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 BRAO zu begründen. Sie vermögen jedoch nicht die besonderen und nur in eng begrenzten Ausnahmefällen gegebenen Voraussetzungen einer Rechtskraftdurchbrechung gemäß § 826 BGB auszufüllen. Dies gilt insbesondere für das Erfordernis, dass zusätzliche Umstände die Art und Weise der Titelerlangung oder der Vollstreckung in sittenwidriger Weise prägen müssen.
b) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen auch nicht, soweit der Kläger geltend macht, das Anwaltsgericht habe seinem Antrag, den Verhandlungstermin zu vertagen, zu Unrecht nicht stattgegeben. Auch ein solcher Verfahrensfehler würde, wäre er gegeben, nicht die vorstehend dargestellten besonderen und nur in eng begrenzten Ausnahmefällen anzunehmenden Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs gemäß § 826 BGB ausfüllen.
2. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten weist die Rechtssache nicht auf (§ 112e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Wie der Kläger zutreffend erkennt, hat sich der Herausgabeanspruch bei rechtskräftigen, aber unter den vorstehend dargelegten Voraussetzungen des § 826 BGB erlangten Vollstreckungstiteln seit langem als allgemein anerkanntes Rechtsinstitut etabliert. Dieses begründet weder rechtliche noch (vorliegend) tatsächliche Schwierigkeiten. Dasselbe gilt für die - vom Kläger kritisierte - Einschränkung des vorgenannten Anspruchs auf eng begrenzte Ausnahmefälle, die von der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestätigt worden ist (BGH, Beschluss vom 26. April 2023 aaO) und von der abzuweichen keine Veranlassung besteht.
Es bestehen auch, anders als der Kläger meint, keine verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Effektivität des Rechtsschutzes gegen berufsrechtliche, auf der Bundesrechtsanwaltsordnung beruhende Disziplinarmaßnahmen. Solche ergeben sich insbesondere nicht aus der vom Kläger auszugsweise wiedergegebenen Publikation von Ott (BRAK-Mitt. 2/2024 (Langfassung)). Im Übrigen folgte aus einem Reformbedarf des gegen Rügen der Rechtsanwaltskammern bestehenden gesetzlichen Rechtsschutzsystems nicht der vom Kläger geltend gemachte Anspruch aus § 826 BGB in Bezug auf eine anwaltsgerichtliche Entscheidung, die im Rahmen dieses Rechtsschutzsystems gesetzmäßig ergangen ist.
Soweit der Kläger geltend macht, die Überprüfung der Rügeentscheidung aufgrund seines Einspruchs habe in der Weise stattgefunden, dass gegenüber dem zur Entscheidung über den Einspruch berufenen Gremium der Beklagten der Sachverhalt verfälscht wiedergegeben und unterlassen worden sei, das Empfangsbekenntnis vorzulegen, wird auf die zutreffenden Ausführungen des Anwaltsgerichtshofs (S. 13 ff. des angefochtenen Urteils) Bezug genommen. Durch die Mutmaßungen des Klägers werden die Voraussetzungen für eine Rechtskraftdurchbrechung gemäß § 826 BGB nicht ansatzweise substantiiert vorgetragen und unter Beweis gestellt. Vielmehr ergibt sich aus dem Inhalt der Akten der Beklagten und des Anwaltsgerichts, dass sowohl die Beklagte als auch das Anwaltsgericht in Kenntnis des Empfangsbekenntnisses und seines Inhalts die Voraussetzungen einer Rüge für gegeben erachtet haben.
3. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 112e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dies gilt insbesondere in Bezug auf die vom Kläger auch in diesem Zusammenhang vorgetragenen Bedenken im Hinblick auf die Effektivität des Rechtsschutzes gegen berufsrechtliche, auf der Bundesrechtsanwaltsordnung beruhende Disziplinarmaßnahmen. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen zu 2. verwiesen, die hier gleichermaßen gelten.
4. Dem Anwaltsgerichtshof ist kein Verfahrensfehler unterlaufen, auf dem das Urteil beruhen kann (§ 112e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
a) Der Anwaltsgerichtshof hat entgegen der Auffassung des Klägers eine mündliche Verhandlung durchgeführt und zwar sowohl verfahrensrechtlich als auch "faktisch". Er hat sein Urteil nicht auf § 330 ZPO (i.V.m. § 112c BRAO, § 73 VwGO) gestützt.
b) Der Anwaltsgerichtshof hat auch nicht den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Ein Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn das Gericht entscheidungserhebliches Parteivorbringen nicht zur Kenntnis nimmt (BGH, Beschluss vom 28. Januar 2016 - VII ZR 126/13, juris Rn. 11 mwN). Bei dem vom Kläger als übergangen gerügten Vortrag handelt es sich indes nicht um entscheidungserhebliches Vorbringen, da er die Voraussetzungen einer Rechtskraftdurchbrechung gemäß § 826 BGB nicht auszufüllen vermag (s.o. zu 1 a bb).
Aus denselben Gründen liegt auch kein Verstoß des Anwaltsgerichtshofs gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot vor.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 194 Abs. 1 BRAO, § 52 Abs.1 und 3 Satz 1 GKG.
Limperg Remmert Liebert Lauer Schmittmann Vorinstanz: AGH München, Entscheidung vom 06.02.2025 - BayAGH III-4-3/21 -