IV ZB 21/21
BUNDESGERICHTSHOF IV ZB 21/21 BESCHLUSS vom 16. Februar 2022 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2022:160222BIVZB21.21.0 Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin Mayen, die Richterin Harsdorf-Gebhardt, die Richter Dr. Götz, Dr. Bommel und Rust am 16. Februar 2022 beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerden des Klägers und des im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht für den Kläger auftretenden Rechtsanwalts wird der Beschluss des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juni 2021 über die Geheimhaltung aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerdeverfahren, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I. Der Kläger, der bei der Beklagten eine private Krankenversicherung unterhält, wendet sich mit seiner Klage gegen mehrere Beitragserhöhungen.
Mit Schriftsatz vom 3. November 2020 reichte die Beklagte während des Berufungsverfahrens eine Zusammenstellung von Unterlagen ein, die dem im Rahmen des Prämienanpassungsverfahrens tätigen Treuhänder seinerzeit überlassen worden sein sollen. Gleichzeitig beantragte die Beklagte, die Verpflichtung zur Verschwiegenheit für die Klagepartei, die Prozessbevollmächtigten der Klagepartei und den Sachverständigen anzuordnen sowie die Öffentlichkeit auszuschließen, soweit abzusehen sei, dass das Anlagenkonvolut Gegenstand der Erörterung werde.
In der zunächst öffentlichen Sitzung des Oberlandesgerichts vom 10. Juni 2020 erschienen der Kläger mit seinem Prozessbevollmächtigten sowie ein Prozessbevollmächtigter der Beklagten. Nachdem für die weitere Verhandlung auf der Grundlage von § 172 Nr. 2 GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden war, beschloss das Oberlandesgericht, gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG dem Kläger und seinem Prozessbevollmächtigten bezogen auf die im Schriftsatz vom 3. November 2020 als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Unterlagen die Geheimhaltung von Tatsachen, die durch die nicht öffentliche Verhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück zu ihrer Kenntnis gelangen, aufzuerlegen.
Mit ihren vom Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden verfolgen die Rechtsbeschwerdeführer das Ziel, die Aufhebung der Geheimhaltungsanordnung zu erreichen.
II. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Oberlandesgericht ausgeführt, die Geheimhaltungsanordnung sei auf sämtliche Unterlagen des Anlagenkonvoluts zu erstrecken, weil ein Geheimhaltungsbedarf der Beklagten auch dann bestehe, wenn Teile dieser Unterlagen dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bereits aus anderen Verfahren bekannt sein sollten.
III. Die Rechtsbeschwerden führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften Rechtsbeschwerden sind auch im Übrigen zulässig.
a) Entgegen der Bedenken der Rechtsbeschwerdeerwiderung sind die Rechtsbeschwerden fristgerecht eingelegt worden. Durch Einreichung der Beschwerdeschrift mit Schriftsatz vom 22. Juli 2021 - eingegangen beim Rechtsbeschwerdegericht an eben diesem Tag - ist die Frist von einem Monat ab Zustellung des Beschlusses des Oberlandesgerichts (§ 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO) gewahrt worden.
In Gang gesetzt worden ist die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerden am 22. Juni 2021; an diesem Tag ist nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerdeführer die angefochtene Entscheidung des Oberlandesgerichts den Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt worden. Ein von diesem Zeitpunkt abweichendes Datum der Zustellung kann nicht zugrunde gelegt werden. Denn ein Empfangsbekenntnis der Klägervertreter betreffend die Zustellung des den angefochtenen Beschluss enthaltenden Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht vom 10. Juni 2021 ist nicht zu den Akten gelangt. Ein Nachweis der Zustellung zu einem Zeitpunkt, der vor dem Datum liegt, welches die Rechtsbeschwerdeführer angegeben haben, ist deshalb nicht geführt (vgl. § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung, vgl. jetzt § 175 Abs. 3 ZPO).
b) Mit den Rechtsbeschwerdeführern ist davon auszugehen, dass die Rechtsbeschwerden unbeschränkt zugelassen worden sind. Soweit das Oberlandesgericht ausgeführt hat, die Rechtsbeschwerde sei gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 ZPO zugelassen, weil bislang höchstrichterlich nicht geklärt scheine, ob eine Geheimhaltungsanordnung auch solche Unterlagen umfassen dürfe, die bereits in demselben Rechtsstreit vorgelegt wurden, liegt darin lediglich eine Begründung für die Zulassung des Rechtsmittels (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 - IV ZB 23/20 [juris Rn. 10]; Senatsurteil vom 31. März 2021 - IV ZR 221/19, WM 2021, 838 Rn. 19).
2. Die Rechtsbeschwerden sind auch begründet.
Die angefochtene Entscheidung ist jedenfalls deshalb aufzuheben, weil ihre Begründung dem Senat die Nachprüfung einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung nicht ermöglicht.
Im gerichtlichen Verfahren über eine Prämienerhöhung in der privaten Krankenversicherung kann einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Versicherers an den technischen Berechnungsgrundlagen im Einzelfall durch Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 172 Nr. 2 GVG und die Verpflichtung zur Verschwiegenheit gemäß § 174 Abs. 3 GVG Rechnung getragen werden (Senatsurteil vom 9. Dezember 2015 - IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 9; vgl. hierzu auch Senatsbeschlüsse vom 10. November 2021 - IV ZB 40/20, juris Rn. 11; vom 23. Juni 2021 - IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 12; vom 14. Oktober 2020 - IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 20; vgl. ferner BVerfG VersR 2000, 214 unter II 1 c [juris Rn. 15]).
Soweit in solchen Rechtsstreitigkeiten eine Geheimhaltungsanordnung in Rede steht, obliegt es im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden. Das Rechtsbeschwerdegericht kann lediglich überprüfen, ob der Tatrichter sein Ermessen verkannt, die Grenzen seines Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Senatsbeschlüsse vom 10. November 2021 - IV ZB 40/20, juris Rn. 15; vom 23. Juni 2021 - IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 13; vom 14. Oktober 2020 - IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 21).
Voraussetzung für die Möglichkeit einer Überprüfung der Entscheidung zur Geheimhaltungsanordnung nach § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG durch das Rechtsbeschwerdegericht ist deshalb, dass die angefochtene Entscheidung erkennen lässt, ob sich das für die Geheimhaltungsanordnung zuständige Gericht des ihm zustehenden Ermessens bewusst war und welche Erwägungen für seine Entscheidung von Bedeutung gewesen sind (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 10. November 2021 - IV ZB 40/20, juris Rn. 17).
Dem wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Sie beschränkt sich im Rahmen der Begründung zur Beschlussfassung zu § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG auf Ausführungen dazu, ein Geheimhaltungsbedarf der Beklagten bestehe auch dann, wenn Teile der als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Unterlagen dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bereits aus anderen Verfahren bekannt sein sollten. Damit aber setzt sich das Oberlandesgericht nur mit einem nachgeordneten Teilaspekt der Umstände auseinander, die für die Entscheidung zur Anordnung der Geheimhaltung von Bedeutung sein können. Offen bleibt, ob und unter Berücksichtigung welcher Umstände hier das Interesse des Versicherers an der Geheimhaltung der Berechnungsgrundlagen einerseits und das Interesse des Versicherungsnehmers an einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung der Berechnung der Prämienerhöhungen andererseits gegeneinander abgewogen worden sind (vgl. hierzu BVerfG VersR 2000, 214 unter II 1 c [juris Rn. 15]). Für die Anordnung der Geheimhaltung gegenüber dem Kläger fehlt es an Erwägungen des Oberlandesgerichts überhaupt.
Eine Überprüfung der Ermessensausübung im Rahmen der Entscheidung zu § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG ist dem Senat auch nicht unter Einbeziehung der Erwägungen des Oberlandesgerichts anlässlich der Beschlussfassung zu § 172 Nr. 2 GVG möglich. Abgesehen davon, dass sich dort die Erwägungen des Oberlandesgerichts wenig aussagekräftig darauf beschränken, durch eine öffentliche Erörterung würden, weil es sich um Grundlagen der Prämienerhöhung handele, "überwiegend schutzwürdige Interessen" verletzt, erfordert die Geheimhaltungsanordnung eine eigenständige Ermessensausübung. Dies folgt schon aus dem Wortlaut der Regelung des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG, wonach eine Geheimhaltungsanordnung den vorangegangenen Ausschluss der Öffentlichkeit voraussetzt. Außerdem betreffen § 172 Nr. 2 GVG einerseits und § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG andererseits unterschiedliche Normadressaten.
IV. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
Hinsichtlich der zur Begründung der Zulassung der Rechtsbeschwerden wegen grundsätzlicher Bedeutung vom Oberlandesgericht aufgeworfenen Frage, ob eine Geheimhaltungsanordnung nach § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG auch solche Unterlagen umfassen darf, die in demselben Rechtsstreit bereits vorgelegt wurden, wird darauf hingewiesen, dass der Senat hierzu - die Frage bejahend - Stellung genommen hat (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. November 2021 - IV ZB 40/20, juris Rn. 32 ff.; vom 11. März 2020 - IV ZB 8/20, juris Rn. 16).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Götz Dr. Bommel Rust Vorinstanzen:
LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 06.12.2018 - 2-23 O 20/18 OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 10.06.2021 - 3 U 12/19 -