IV ZR 196/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES IV ZR 196/22 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 10. Juli 2024 Heinekamp Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:100724UIVZR196.22.0 Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Karczewski, die Richterinnen Harsdorf-Gebhardt, Dr. Brockmöller, Dr. Bußmann und den Richter Dr. Bommel im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 26. Juni 2024 für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des Oberlandesgerichts München - 25. Zivilsenat - vom 17. Mai 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 39.483,26 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand: 1 Die Klägerin begehrt von der Beklagten die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung eines fondsgebundenen steuerbegünstigten Rentenversicherungsvertrages (sogenannte Rürup-Rente) nach erklärtem Widerspruch.
Dieser Vertrag wurde auf Antrag der Klägerin im sogenannten Policenmodell gemäß § 5a VVG in der seinerzeit maßgeblichen Fassung mit Versicherungsbeginn zum 1. Juni 2006 abgeschlossen. Die Klägerin zahlte fortan die Beiträge.
Mit Schreiben vom 12. Mai 2020 erklärte sie den Widerspruch gegen das Zustandekommen des Versicherungsvertrages und begehrte von der Beklagten Rückzahlung der geleisteten Beiträge sowie Herausgabe gezogener Nutzungen. Nach ihrer Auffassung war die Belehrung über das Widerspruchsrecht nicht ordnungsgemäß. Zudem seien die notwendigen Verbraucherinformationen unvollständig gewesen.
Mit der Klage hat die Klägerin im Wege der Stufenklage die Verurteilung der Beklagten zur Erteilung von Auskünften über verschiedene Vertragsparameter sowie die Feststellung, dass der Vertrag infolge des Widerspruchs nicht zustande gekommen und die Beklagte zur Herausgabe der empfangenen Leistungen und der damit gezogenen Nutzungen nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen verpflichtet sei, begehrt. Auf der zweiten Stufe hat sie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines nach erfolgten Auskünften zu berechnenden und beziffernden Betrages zzgl. Zinsen beantragt. Das Landgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung der Berufungsentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann die Klägerin die begehrten Auskünfte von der Beklagten nicht verlangen und hat keinen bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsanspruch. Unabhängig davon, ob die Verbraucherinformationen ausreichten und die Belehrung den gesetzlichen Anforderungen entspreche, sei die Berufung der Klägerin auf ein Widerspruchsrecht angesichts besonders gravierender Umstände rechtsmissbräuchlich. Die Klägerin sei in den Verbraucherinformationen auf der ersten Seite deutlich darauf hingewiesen worden, dass sie sich innerhalb von 30 Tagen vom Vertrag lösen könne, und habe trotzdem den Vertrag fast 14 Jahre durchgeführt. Bei den Verbraucherinformationen seien die Mängel nicht so erheblich, dass sie die Annahme eines Rechtsmissbrauchs ausschließen würden; eine etwaige Intransparenz der Verbraucherinformation zur Überschussbeteiligung löse kein Widerspruchsrecht aus. Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass es sich um eine (steuerlich geförderte) Rürup-Rentenversicherung handele; ausdrücklich ausgeschlossen seien Kapitalwahlrecht und Rückkauf. Dies sei als ein Umstandsmoment zu berücksichtigen, das erheblich ins Gewicht falle. Schließlich habe die Klägerin mehrfach von ihrem vertraglich eingeräumten Recht, dynamischen Erhöhungen von Beiträgen zu widersprechen, Gebrauch gemacht. 2011 sei der Vertrag außerdem einvernehmlich angepasst worden, 2013 sei eine Beitragsreduzierung vereinbart worden, im Jahr 2014 habe die Klägerin von ihrem Recht auf Beitragsfreistellung Gebrauch gemacht. Weiter habe die Klägerin erheblich auf die Vertragsdurchführung auch dadurch Einfluss genommen, dass sie in den Jahren 2018 und 2019 die Fonds umgeschichtet habe. Zwar führe alleine der Umstand, dass der Versicherungsnehmer wiederholt Vertragsänderungen vorgenommen bzw. auch vertragliche Rechte ausgeübt habe, im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung nicht zur Treuwidrigkeit der Ausübung des Widerspruchsrechts. Dies könne aber als Indiz bewertet und in die Gesamtabwägung eingestellt werden.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Bereicherungsrechtliche Rückabwicklungsansprüche können der Klägerin mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht versagt werden.
1. Allerdings ist für das Revisionsverfahren von einem fortbestehenden Widerspruchsrecht der Klägerin nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der bei Abschluss des Rentenversicherungsvertrages maßgeblichen Fassung vom 2. Dezember 2004 auszugehen. Denn das Berufungsgericht hat zwar angenommen, die Klägerin sei in den Verbraucherinformationen deutlich darauf hingewiesen worden, dass sie sich innerhalb von 30 Tagen vom Vertrag lösen könne. Es hat aber eine insgesamt ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung und eine vollständige Verbraucherinformation nicht festgestellt.
2. Die geltend gemachten Bereicherungsansprüche sind entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auf der Grundlage der bislang von ihm getroffenen Feststellungen nicht ausnahmsweise aufgrund des Vorliegens besonders gravierender Umstände nach Treu und Glauben ausgeschlossen.
a) Nach der Rechtsprechung des Senats kann der Versicherer bei einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung zwar grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt hat. Aber auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung kann die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind. Dementsprechend hat der Senat bereits tatrichterliche Entscheidungen gebilligt, die in Ausnahmefällen mit Rücksicht auf besonders gravierende Umstände des Einzelfalles auch dem nicht oder nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung eines Bereicherungsanspruchs nach § 242 BGB verwehrt haben (Senatsurteil vom 19. Juli 2023 - IV ZR 268/21, BGHZ 238, 32 Rn. 9 m.w.N.). Allgemein gültige Maßstäbe dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fehlerhafte Belehrung der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Widerspruchsrechts entgegensteht, können nicht aufgestellt werden. Vielmehr obliegt die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall dem Tatrichter. Auch in Fällen eines fortbestehenden Widerspruchsrechts kann die Bewertung des Tatrichters in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungsmaßstab ausgeht (Senatsurteil vom 19. Juli 2023 aaO Rn. 10 m.w.N.).
b) Danach genügen die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zur Annahme besonders gravierender Umstände. Die vom Berufungsgericht berücksichtigten Widersprüche der Klägerin gegen Beitragserhöhungen, eine einvernehmliche Anpassung des Vertrages, die Vereinbarung einer Beitragsreduzierung, die Beitragsfreistellung sowie die Umschichtungen in den Fonds gehören zu einer gewöhnlichen Vertragsdurchführung und können weder für sich genommen noch im Rahmen einer Gesamtwürdigung besonders gravierende Umstände sein, die im Ausnahmefall auch dem nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung seines Widerspruchsrechts und daraus folgender Bereicherungsansprüche verwehren können (vgl. Senatsurteile vom 25. Januar 2017 - IV ZR 173/15, r+s 2017, 126 Rn. 21; vom 21. Dezember 2016 - IV ZR 217/15, r+s 2017, 129 Rn. 14).
Dies gilt auch für den vom Berufungsgericht als erheblich ins Gewicht fallend gewürdigten Umstand, dass es sich um eine steuerlich geförderte Rürup-Rentenversicherung (Basisrentenversicherung) handelt, bei der Kapitalwahlrecht und Rückkauf ausgeschlossen sind. Allein deshalb konnte die Beklagte nicht darauf vertrauen, die Klägerin werde von einem etwaigen Widerspruchsrecht nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. keinen Gebrauch machen. Bei einem sogenannten Basisrentenvertrag steht für den Versicherungsnehmer die Inanspruchnahme des Sonderausgabenabzugs nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG im Vordergrund, den er jedoch nicht erlangen kann, ohne dass sein Interesse an der Verfügbarkeit über sein individuelles Vorsorgekapital zurücktritt: Die staatliche Förderung soll nur solchen Vorsorgeprodukten zuteilwerden, bei denen die tatsächliche Verwendung für die Altersversorgung gesichert ist. Um dies zu gewährleisten, setzen § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG in der ursprünglichen Fassung nach dem Alterseinkünftegesetz vom 5. Juli 2004 wie in der bei Abschluss des streitgegenständlichen Versicherungsvertrages als auch § 10 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG in der derzeit geltenden Fassung u.a. voraus, dass die Ansprüche aus dem Basisrentenvertrag nicht kapitalisierbar sind und kein Anspruch auf Auszahlungen bestehen darf. Dem würde es widersprechen, wenn dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit der Auszahlung des angesparten Vorsorgevermögens eröffnet wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 11. November 2015 - IV ZR 402/14, VersR 2016, 241 Rn. 28 f.).
Allerdings ist allein die vertragsgemäße Durchführung eines solchen Vertrages ohne Hinzutreten weiterer Umstände kein besonders gravierender Umstand, der ein Vertrauen des Versicherers auf den Bestand des Vertrages begründen könnte. Die Inanspruchnahme steuerlicher Vorteile
- wie hier im Rahmen eines sogenannten Basisrentenversicherungsvertrages - genügt für sich genommen nicht, um dem Versicherungsnehmer nach § 242 BGB die Geltendmachung eines Widerspruchsrechts zu versagen. Dieser verhält sich mit der Durchführung eines solchen Vertrages so, wie in den Vertragsbedingungen vorgesehen, und nimmt Steuervorteile in Anspruch, die für dieses Vertragsmodell gesetzlich bestimmt sind. Etwas anderes könnte etwa dann gelten, wenn der Versicherungsnehmer Zuzahlungen leistet und dadurch zum Ausdruck bringt, die vertragliche Bindung aufrecht zu erhalten und über das ursprüngliche Leistungsversprechen hinaus zu erweitern (vgl. OLG Hamm VersR 2023, 1283 [juris Rn. 39 ff.]; vgl. auch LG Köln, Urteil vom 14. Dezember 2021 - 12 O 115/21, juris Rn. 47; jeweils zum Widerrufsrecht nach § 8 Abs. 1 Satz 1 VVG n.F.). Dazu ist hier nichts festgestellt.
Dem stehen auch die Senatsbeschlüsse vom 4. Mai 2022 (IV ZR 201/20, VersR 2022, 1266 Rn. 26) und vom 23. Februar 2022 (IV ZR 150/20, NJW-RR 2022, 684 Rn. 22) nicht entgegen. In diesen Entscheidungen hat der Senat den Übergang eines Widerspruchsrechts des Arbeitgebers auf den Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses für unvereinbar mit dem Versorgungszweck einer im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung abgeschlossenen Lebensversicherung erachtet. Damit hat er allerdings nicht einschränkungslos die Ausübung eines "ewigen" Lösungsrechts bei Altersvorsorgeverträgen in Frage gestellt (so zutreffend OLG Frankfurt VersR 2023, 834 [juris Rn. 48]). Um einen derartigen Versorgungszweck einer betrieblichen Altersversorgung und den möglichen Übergang eines Widerspruchsrechts geht es hier gerade nicht. Der Versicherungsnehmer eines Basisrentenversicherungsvertrages - wie hier die Klägerin - verlangt überdies - anders als die Kläger in den vorgenannten Verfahren - nach einem Widerspruch von ihm selbst gezahlte Versicherungsprämien zurück. Allein die Inanspruchnahme steuerlicher Vorteile, die dem Zweck des geschlossenen Vertrages immanent sind, genügt für die Annahme besonders gravierender Umstände ohne Hinzutreten weiterer Gesichtspunkte jedenfalls nicht.
III. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat zunächst im Rahmen der ihm obliegenden tatrichterlichen Würdigung festzustellen, ob der Klägerin überhaupt ein Widerspruchsrecht zusteht, und - nach Prüfung der Zulässigkeit der Stufenklage (vgl. für die private Krankenversicherung Senatsurteil vom 27. September 2023 - IV ZR 177/22, r+s 2023, 1059 Rn. 24 m.w.N.) - gegebenenfalls die Höhe der Ansprüche der Klägerin zu klären.
Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zum Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist im Streitfall auch angesichts der neueren Entscheidungen des Gerichtshofs (Urteile vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513; vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40; vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667) und des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 2022 (VersR 2022, 1252) schon mangels abschließender Entscheidung des Senats nicht veranlasst (vgl. Senatsurteil vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, BGHZ 238, 32 Rn. 25). Mit Urteil vom 19. Juli 2023 (IV ZR 268/21, VersR 2023, 1151) hat der Senat in diesem Zusammenhang zudem entschieden und im Einzelnen begründet, dass auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union daran festzuhalten ist, dass die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise Treu und Glauben (§ 242 BGB) widersprechen und damit unzulässig sein kann, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind, und zu diesem Einwand eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht geboten ist (Senatsurteil vom 19. Juli 2023 aaO Rn. 9, 13 ff.).
Prof. Dr. Karczewski Harsdorf-Gebhardt Dr. Brockmöller Dr. Bußmann Dr. Bommel Vorinstanzen: LG Traunstein, Entscheidung vom 27.01.2022 - 1 O 1741/20 OLG München, Entscheidung vom 17.05.2022 - 25 U 796/22 -