4 StR 492/25
BUNDESGERICHTSHOF StR 492/25 BESCHLUSS vom 18. November 2025 in der Strafsache gegen wegen versuchten Mordes u.a.
ECLI:DE:BGH:2025:181125B4STR492.25.0 Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag und nach Anhörung des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 18. November 2025 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO, § 354 Abs. 1 StPO analog beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 19. Mai 2025 a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr schuldig ist,
b) im Ausspruch über die Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis aufgehoben; der Ausspruch entfällt.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit „vorsätzlichem“ gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Zudem hat es gegen ihn eine Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts entwendete der Angeklagte ein Fahrrad, um schneller und bequemer seinen Weg zurückzulegen. Als anschließend ein Defekt am Rad auftrat, geriet er hierüber in Wut und beschloss, sich dessen sogleich wieder zu entledigen. Hierzu warf der Angeklagte das Fahrrad mit bedingtem Tötungsvorsatz von einer Brücke auf die darunter gelegene Autobahn bei dort zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h und mittlerem Verkehrsaufkommen. Es schlug auf der rechten Fahrspur auf, worauf der Fahrzeugführer des zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Fahrtstrecke von wenigen Sekunden vom Aufprallort entfernten Pkw „geschockt“ auf die linke Fahrspur auswich. Er hupte sofort und bremste gleichzeitig „stark“ ab, um den nachfolgenden Verkehr zu warnen und diesem ein Ausweichen zu ermöglichen. Hierdurch gelang es dem Kraftfahrer des hinter ihm fahrenden Pkw, ebenfalls auf die linke Fahrspur „ruckartig“ auszuweichen und eine Kollision mit dem noch etwa 50 Meter entfernten Fahrrad zu vermeiden. Sämtliche Fahrzeuginsassen blieben unverletzt und deren Pkw unbeschädigt. Der Angeklagte entfernte sich zu Fuß von der Brücke. Im Nachgang gelang es einem Verkehrsteilnehmer, das Fahrrad auf den Grünstreifen neben der Autobahn zu versetzen.
2. Das Urteil erweist sich hinsichtlich der tateinheitlichen Verurteilung wegen vollendeten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr als rechtsfehlerhaft, weil die Feststellungen eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB nicht tragen.
a) Die Annahme einer konkreten Gefahr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 20. Mai 2025 – 4 StR 168/25 Rn. 7; Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 zu § 315c StGB mwN). Dabei steht der Annahme einer solchen Gefahrenlage nicht entgegen, dass ein Schaden ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete – etwa aufgrund überdurchschnittlich guter Reaktion – noch zu retten vermochte (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 4 StR 528/20, NStZ-RR 2021, 187, 188; Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131, jew. zu § 315c StGB; Fischer, StGB, 72. Aufl., § 315c Rn. 15a). Auch wenn an die insoweit zu treffenden Feststellungen und die zugrundeliegende Beweiswürdigung keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen und deshalb genaue Angaben zu Entfernungen, Geschwindigkeiten oder Bremsverzögerungen nicht stets notwendige Bedingung für eine ausreichende Sachverhaltsbeschreibung sind (vgl. dazu BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 f. mwN), muss sich aus den Darlegungen im Urteil aber gleichwohl hinreichend deutlich ergeben, dass es zu einer hochriskanten Situation gekommen ist. Dabei kann es von indizieller Bedeutung sein, dass zur Vermeidung eines Schadensfalls alle vorhandenen technischen Möglichkeiten der beteiligten Fahrzeuge ausgeschöpft (Vollbremsung) oder gefährliche, weil nicht mehr kontrollierbare, Ausweichmanöver vorgenommen werden mussten. Gleiches gilt, wenn massive Kontrollverluste eingetreten sind (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2025 – 4 StR 168/25 Rn. 7).
b) Hiernach genügen die Feststellungen des Landgerichts nicht den Anforderungen zur Darlegung eines „Beinahe-Unfalls“. Denn den Urteilsgründen lässt sich – auch in ihrem Gesamtzusammenhang – nicht entnehmen, dass es zu einer Gefahrenlage in dem dargestellten Sinn gekommen ist. Schon der von der Strafkammer als „stark“ beschriebene (kollisionsvermeidende) Bremsvorgang des ersten Fahrzeugführers deutet auf ein dosiertes Vorgehen hin, weil danach das Bremssystem des Pkw nicht vollständig ausgenutzt wurde. Zudem weisen dessen gleichzeitige Handhabungen („Hupen“ und „Ausweichen“) auf ein kontrolliertes Fahrmanöver hin. Dies gilt umso mehr, als er in dieser Situation noch die Belange der anderen Verkehrsteilnehmer bedenken konnte. Auch bleibt offen, in welchem Abstand der zweite Fahrzeugführer auf die Gefahrenlage aufmerksam wurde, bevor dieser dem Hindernis in einer Entfernung von 50 Metern auswich.
Da auszuschließen ist, dass ein neuer Tatrichter Feststellungen treffen kann, die die Annahme eines vollendeten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr tragen könnten, ist der Schuldspruch insoweit auf Versuch umzustellen. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, denn es kann ausgeschlossen werden, dass sich der Angeklagte gegen den geänderten Schuldspruch wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.
c) Der Strafausspruch bleibt von der Änderung des Schuldspruchs unberührt. Das Landgericht hat die Strafe – weiterhin nach § 52 Abs. 2 StGB zutreffend – dem nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB entnommen. Der Senat schließt aus, dass es bei zutreffender Beurteilung des weiteren tateinheitlich verwirklichten Delikts nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB als Versuchstat auf eine geringere Freiheitsstrafe erkannt hätte.
3. Ferner kann die Anordnung der isolierten Sperrfrist nach § 69 Abs. 1, § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB nicht bestehen bleiben.
Das Landgericht hat die Anordnung der Maßregel damit begründet, der Angeklagte habe die Tat als Ventil seiner Emotionen genutzt und nicht davor zurückgeschreckt, dass es zu tödlichen Folgen kommen könnte. Dadurch habe er eine besondere Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern an den Tag gelegt. Diese Erwägung trägt den Maßregelausspruch nicht. Voraussetzung für die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit auch für die Anordnung einer (isolierten) Sperrfrist nach § 69a Abs. 1 StGB ist, dass der Täter die Tat „bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat“ (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StGB). Ein solcher Zusammenhang der dem Angeklagten angelasteten Tat mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs besteht hier jedoch nicht. Der Angeklagte hat weder vor noch nach Begehung der Tat ein Kraftfahrzeug geführt. Die Tat wurde auch nicht unter Verletzung einer spezifisch einem Kraftfahrer im Straßenverkehr obliegenden Pflicht begangen. Sie war zwar gegen andere Teilnehmer des motorisierten Straßenverkehrs gerichtet; dies kann jedoch für sich genommen auch dann nicht die Anordnung von Maßregeln nach § 69, § 69a StGB rechtfertigen, wenn die Handlung angesichts ihrer Schwere auf eine charakterliche Unzuverlässigkeit des Täters hinweist (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2023 – 4 StR 443/22, NStZ-RR 2023, 189, 190 mwN; Beschluss vom 10. Oktober 2000 – 4 StR 381/00, juris Rn. 5).
4. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
5. Der nur geringfügige Erfolg der Revision rechtfertigt es nicht, den Angeklagten auch nur teilweise von den durch das Rechtsmittel veranlassten Kosten und Auslagen freizustellen (§ 473 Abs. 4 StPO).
Quentin Maatsch Scheuß Marks Gödicke Vorinstanz: Landgericht Duisburg, 19.05.2025 - 35 Ks - 133 Js 203/24 - 4/25