XIII ZB 11/22
BUNDESGERICHTSHOF XIII ZB 11/22 BESCHLUSS vom 14. Januar 2025 in der Abschiebungshaftsache ECLI:DE:BGH:2025:140125BXIIIZB11.22.0 Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Januar 2025 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterinnen Dr. Roloff, Dr. Picker und Dr. Holzinger sowie den Richter Dr. Kochendörfer beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 20. Dezember 2021 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Darmstadt vom 28. Januar 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land Hessen auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I. Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im August 2015 aus Italien ein. Sein Asylantrag wurde am 16. März 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel blieben erfolglos. Am 21. Januar 2020 beantragte die Ausländerbehörde die vorläufige Freiheitsentziehung im Wege einstweiliger Anordnung für den Fall der Festnahme des Betroffenen und die anschließende Anordnung des Ausreisegewahrsams für die Dauer von zehn Tagen. Mit Beschluss vom
23. Januar 2020 ordnete das Amtsgericht die vorläufige Freiheitsentziehung an. Nach seiner Festnahme erklärte der Betroffene in seiner persönlichen Anhörung durch das Amtsgericht am 28. Januar 2020, er wolle mit seinem Anwalt sprechen. Nach erfolglosen Versuchen, den Verfahrensbevollmächtigten telefonisch zu erreichen, hat das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag gegen den Betroffenen Ausreisegewahrsam für die Dauer von zehn Tagen angeordnet. Am 4. Februar 2020 wurde er nach Pakistan abgeschoben.
Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 28. Januar 2020 gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 20. Dezember 2021 zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er beantragt, festzustellen, dass ihn die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 28. Januar 2020 und des Landgerichts vom 20. Dezember 2021 sowie der Vollzug des Ausreisegewahrsams in seinen Rechten verletzt haben.
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit hier maßgeblich - ausgeführt, die Voraussetzungen des Ausreisegewahrsams nach § 62b Abs. 1 AufenthG seien gegeben. Der Grundsatz des fairen Verfahrens sei nicht verletzt worden. Der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen sei per Fax über den Anhörungstermin in Kenntnis gesetzt worden. Außerdem habe die Haftrichterin während der Anhörung mehrfach erfolglos versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Es würde die Anforderungen überspannen, wolle man in dieser Situation von dem Amtsgericht lediglich die Anordnung einer sehr kurzen Haft und die Terminierung einer weiteren Anhörung verlangen.
2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens durch das Amtsgericht.
a) Dieser Grundsatz garantiert einem Betroffenen, sich zur Wahrung seiner Rechte in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen. Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen. Das gilt auch, wenn der Betroffene im Verlauf seiner persönlichen Anhörung erklärt, einen Rechtsanwalt zu Rate ziehen zu wollen (BGH, Beschlüsse vom 25. April 2022 - XIII ZB 34/21, juris Rn. 7; vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 18/20, juris Rn. 6). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. zuletzt BGH, Beschlüsse vom 11. Juni 2024 - XIII ZB 35/21, juris Rn. 13; vom 17. September 2024 - XIII ZB 67/20, juris Rn. 12).
b) Diesen Maßstäben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.
aa) Die Haftrichterin wusste, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat. Einerseits war er im Rubrum des Haftantrags als Bevollmächtigter benannt; zum anderen hat der Betroffene während seiner Anhörung geäußert, mit seinem Anwalt sprechen zu wollen. Darauf, ob der Rechtsanwalt auch für das Freiheitsentziehungsverfahren von dem Betroffenen bereits bevollmächtigt war, kommt es bei dieser Sachlage nicht an. Der Betroffene hat deutlich gemacht, seinen Rechtsanwalt mit der Vertretung in diesem Verfahren jedenfalls betrauen zu wollen. Ungeachtet dessen erstreckte sich die Vollmacht des Rechtsanwalts nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts, von denen das Rechtsbeschwerdegericht gemäß § 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 ZPO auszugehen hat, auf das vorliegende Ausreisegewahrsamsverfahren.
bb) Das Amtsgericht hat den Rechtsanwalt nicht rechtzeitig von dem Anhörungstermin informiert. Im Protokoll der Anhörung heißt es dazu, es werde festgestellt, dass der Prozessbevollmächtigte des Betroffenen per Fax vom heutigen Termin in Kenntnis gesetzt wurde, jedoch nicht erschienen sei. Die Vorinstanzen haben nicht festgestellt, wann genau das Fax versandt wurde. Das ist auch aus den Akten nicht ersichtlich. Zugunsten des Rechtsbeschwerdeführers ist daher zu unterstellen, dass das Fax erst im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Termin versandt wurde. Das genügt nicht. Das Amtsgericht musste vielmehr die naheliegende Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich der Rechtsanwalt während der üblichen Dienststunden außerhalb seines Kanzleisitzes aufhalten konnte, etwa zur Wahrnehmung von Terminen bei Gerichten. Es ist außerdem eine angemessene Reaktionszeit für die Prüfung zu berücksichtigen, ob ein Verlegungsantrag gestellt werden soll und welche Möglichkeiten dafür gegebenenfalls im Hinblick auf eine Eilbedürftigkeit der Sache oder den Terminkalender des Anwalts bestehen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2022 - XIII ZB 50/21, NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 8; vom 5. Dezember 2023 - XIII ZB 15/23, juris Rn. 11). Es reicht daher entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts auch nicht aus, dass die Haftrichterin während des Anhörungstermins mehrfach vergeblich versucht hat, den Rechtsanwalt telefonisch zu erreichen. Die Haft hätte im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 427 FamFG nur vorläufig angeordnet werden dürfen, wobei die Abschiebung aus der nur vorläufig angeordneten Haft heraus gleichwohl erfolgen darf (BGH, Beschlüsse vom 25. April 2022 - XIII ZB 34/21, juris Rn. 7, 8 ; vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 18/20, juris Rn. 6). Das gilt auch für Ausreisegewahrsam gemäß § 62b Abs. 2 AufenthG (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. März 2022 - XIII ZB 1/21, juris Rn. 11; NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 8).
3. Der Senat kann nach § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG in der Sache selbst entscheiden, weil weitere Feststellungen zum Zeitpunkt der Unterrichtung des Rechtsanwalts von dem Anhörungstermin nicht zu erwarten sind.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff Holzinger Roloff Picker Kochendörfer Vorinstanzen: AG Darmstadt, Entscheidung vom 28.01.2020 - 273 XIV 40/20 LG Darmstadt, Entscheidung vom 20.12.2021 - 5 T 80/20 -