XIII ZB 55/22
BUNDESGERICHTSHOF XIII ZB 55/22 BESCHLUSS vom 26. Mai 2025 in der Freiheitsentziehungssache ECLI:DE:BGH:2025:260525BXIIIZB55.22.0 Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Mai 2025 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Vogt-Beheim sowie den Richter Dr. Kochendörfer beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 20. Mai 2022 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Minden vom 28. Oktober 2021 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis HamelnPyrmont auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I. Der Betroffene, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 15. Oktober 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2020 erteilte ihm das Landratsamt E eine bis zum 31. März 2021 befristete Aufenthaltserlaubnis. Am 20. März 2021 meldete sich der Betroffene unter Verwendung eines gefälschten Ausweispapiers als bulgarischer Staatsangehöriger zum Zweck der Arbeitssuche in M an. Bei einer Baustellenkontrolle wurde er am 27. Oktober 2021 festgenommen.
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung bis einschließlich 17. November 2021 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde, die der Betroffene nach seiner Abschiebung am 17. November 2021 mit dem Feststellungsantrag weiterverfolgt hat, ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet er sich mit der Rechtsbeschwerde.
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere nicht gemäß § 70 Abs. 4 FamFG unstatthaft. Das Amtsgericht hat, wie die gebotene Auslegung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2015 - V ZB 40/15, InfAuslR 2016, 55 Rn. 9; vom 20. April 2021 - XIII ZB 47/20, juris Rn. 7) ergibt, über den Haftantrag der beteiligten Behörde in der Hauptsache entschieden. Der Beschluss des Amtsgerichts enthält keine Feststellungen zur Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung und stellt den Haftgrund der Fluchtgefahr abschließend fest. Zudem weist die erteilte Rechtsmittelbelehrung auf die Monatsfrist des § 63 Abs. 1 FamFG hin und nicht auf die - im Falle der einstweiligen Anordnung maßgebliche - Zweiwochenfrist des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG. Vor diesem Hintergrund lässt allein die Erwähnung des § 427 FamFG im Beschlusseingang nicht den Schluss zu, dass das Amtsgericht lediglich eine einstweilige Anordnung erlassen wollte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Mai 2011 - V ZB 296/10, juris Rn. 8; vom 21. November 2013 - V ZB 96/13, FGPrax 2014, 87 Rn. 5; vom 6. März 2014 - V ZB 121/13, juris Rn. 4; vom 20. April 2021 - XIII ZB 47/20, juris Rn. 6, 7).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
a) Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Haftanordnung habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen und diese sei auch sonst rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig und eine Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG entbehrlich gewesen. Es habe der Haftgrund der Fluchtgefahr bestanden.
b) Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Haftanordnung erweist sich als rechtswidrig, weil es im Zeitpunkt ihrer Anordnung an einer Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 AufenthG fehlte. Das Vorliegen einer Abschiebungsandrohung gehört zu den vom Haftrichter zu prüfenden Vollstreckungsvoraussetzungen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Februar 2019 - V ZB 216/17, InfAuslR 2019, 228 Rn. 11 mwN). Fehlt es an einer für die Vollstreckung erforderlichen Voraussetzung, darf eine kraft Gesetzes (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) oder Verwaltungsakts (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) vollziehbare Ausreisepflicht nicht durch Abschiebung durchgesetzt und Haft zur Sicherung der Abschiebung oder Rücküberstellung nicht angeordnet werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2019 - V ZB 60/17, InfAuslR 2020, 28 Rn. 8; vom 31. August 2021 - XIII ZB 97/19, NVwZ-RR 2022, 115 Rn. 11; vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 64/20, juris Rn. 11, jeweils mwN). Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen für ein gänzliches Absehen von einer Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) vorlagen, bestehen nicht.
c) Die Haft ist auch nicht dadurch rechtmäßig geworden, dass die beteiligte Behörde den Betroffenen mit diesem am 13. November 2021 in der Haft zugestellten, erst im Rechtsbeschwerdeverfahren zu den Gerichtsakten gereichten und in der Beschwerdeentscheidung nicht berücksichtigten Bescheid vom 10. November 2021 aus Deutschland ausgewiesen und ihm die Abschiebung angedroht hat. Hierauf hätte das Beschwerdegericht seine Entscheidung nur nach - im Streitfall nicht erfolgter - erneuter Anhörung des Betroffenen stützen können,
da die erstmalige Androhung der Abschiebung eine neue Tatsache ist, zu welcher der Betroffene zwingend angehört werden muss (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 64/20, juris Rn. 13).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Roloff Tolkmitt Picker Vogt-Beheim Kochendörfer Vorinstanzen: AG Minden, Entscheidung vom 28.10.2021 - 49 XIV (B) 21/21 LG Bielefeld, Entscheidung vom 20.05.2022 - 23 T 586/21 -