IV ZR 51/23
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES IV ZR 51/23 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 10. Juli 2024 Heinekamp Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:100724UIVZR51.23.0 Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Karczewski, die Richterinnen Harsdorf-Gebhardt, Dr. Bußmann, die Richter Dr. Bommel und Piontek auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2024 für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 8. Dezember 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 17.321,13 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand: 1 Die Klägerin macht aus behauptet abgetretenem Recht Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung von drei Versicherungsverträgen geltend.
Mit Versicherungsbeginn zum 1. Dezember 1999, 1. November 2000 und 1. März 2001 schlossen die Versicherungsnehmer im sogenannten Policenmodell Verträge über kapitalbildende Lebens- bzw. Rentenversicherungen bei der Beklagten ab. Nachdem die Versicherungsnehmer Vereinbarungen zur Abtretung und Übertragung sämtlicher Ansprüche und Rechte aus dem jeweiligen Versicherungsvertrag an eine GmbH getroffen hatten, kündigte diese Gesellschaft in den Jahren 2014 bzw. 2015 die Verträge und erhielt anschließend die von der Beklagten errechneten Rückkaufswerte ausgezahlt. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2018 zeigte die Klägerin die weitere Abtretung etwaig noch bestehender Rechte aus den drei Versicherungsverträgen an sich an und erklärte den Widerspruch.
Die drucktechnisch hinreichend hervorgehobene Widerspruchsbelehrung lautet jeweils:
"Widerspruchsrecht Nach § 5 a Versicherungsvertragsgesetz steht Ihnen ein 14-tägiges Widerspruchsrecht zu. Die Versicherung gilt auf der Grundlage des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformationen als geschlossen, wenn Sie nicht innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt dieser Unterlagen der Versicherung widersprechen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung." Mit der Klage verlangt die Klägerin im Wege der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung Rückzahlung der eingezahlten Prämien zuzüglich gezogener Nutzungen abzüglich der Risikokosten und bereits ausgezahlter Rückkaufswerte.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Das Berufungsgericht hat einen Zahlungsanspruch der Klägerin aufgrund erklärter Widersprüche gemäß den §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 398 BGB verneint. Es fehle zwar in der Widerspruchsbelehrung jeweils ein Hinweis auf die bei der Erklärung des Widerspruchs einzuhaltende Schriftlichkeit. Dieser Belehrungsmangel sei aber abstrakt nicht geeignet, den durchschnittlichen Versicherungsnehmer daran zu hindern, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen auszuüben wie bei zutreffender Belehrung. Deshalb sei für die drei Versicherungsverträge der Lauf der Widerspruchsfrist nach § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. mit Erhalt des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der Verbraucherinformationen in Gang gesetzt worden, so dass die Frist im Zeitpunkt der Ausübung der Widerspruchsrechte im Jahr 2018 bereits lange abgelaufen sei. Selbst wenn man dieser Auffassung nicht folge, sei das Widerspruchsrecht jedenfalls ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie nach § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. erloschen. Die vorgenannte Regelung gelte weiter, wenn - wie hier - der Versicherungsnehmer zwar fehlerhaft belehrt, aber nicht gehindert worden sei, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Ein bereicherungsrechtlicher Anspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB kann der Klägerin nicht mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung versagt werden.
1. Das Berufungsgericht hat allerdings ohne Rechtsfehler festgestellt, dass die Beklagte die jeweiligen Versicherungsnehmer nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. über das Widerspruchsrecht belehrte. Die Widerspruchsbelehrung enthielt jeweils keinen Hinweis auf die nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 29. Juli 1994 gültigen Fassung erforderliche Schriftform des Widerspruchs. Dieses Formerfordernis konnten die jeweiligen Versicherungsnehmer nicht aus der Formulierung entnehmen, dass zur Wahrung der Frist die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs genüge (vgl. Senatsurteile vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 10; vom 29. Juli 2015 - IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 24; jeweils m.w.N.).
2. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht jedoch angenommen, einem fortbestehenden Widerspruchsrecht stehe entgegen, dass der vorgenannte Belehrungsfehler nicht geeignet gewesen sei, die Versicherungsnehmer jeweils von der Ausübung eines fristgerechten Widerspruchs abzuhalten.
a) Wie der Senat nach Erlass der Berufungsentscheidung mit Urteil vom 15. Februar 2023 (IV ZR 353/21, BGHZ 236, 163 Rn. 13 ff.) entschieden und im Einzelnen begründet hat, ist ein Bereicherungsanspruch nach § 242 BGB wegen rechtsmissbräuchlicher Ausübung des Widerspruchsrechts ausgeschlossen, wenn dem Versicherungsnehmer durch eine fehlerhafte Information in der Widerspruchsbelehrung nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Unter diesen
(engen) Voraussetzungen liegt ein geringfügiger Belehrungsfehler vor, der einer Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 242 BGB entgegensteht.
b) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts wurde den Versicherungsnehmern jedoch hier durch den fehlenden Hinweis auf die nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 29. Juli 1994 gültigen Fassung erforderliche Schriftform des Widerspruchs die Möglichkeit genommen, ihr Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Wie der Senat ebenfalls nach Erlass des Berufungsurteils mit Urteil vom 15. März 2023 (IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 13 ff.) entschieden und im Einzelnen begründet hat, liegt kein geringfügiger Belehrungsfehler im oben genannten Sinne vor, wenn eine Widerspruchsbelehrung keinen Hinweis auf die nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. erforderliche Form (hier: Schriftform) enthielt. Allein dem in der Belehrung enthaltenen Hinweis, dass zur Wahrung der Frist rechtzeitiges Absenden der Widerspruchserklärung genüge, wird der Versicherungsnehmer nicht entnehmen, dass ein Widerspruch in Schriftform erforderlich ist. Vielmehr wird er - anders als das Berufungsgericht meint - annehmen, dass ein formloser Widerspruch ebenfalls genügt (vgl. Senatsurteil vom 15. März 2023 aaO Rn. 16 ff.).
III. 1. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung sowie zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zum Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB)
ist im Streitfall auch angesichts der neueren Entscheidungen des Gerichtshofs (Urteile vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513; vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40; vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667) und des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 2022 (VersR 2022, 1252) schon mangels abschließender Entscheidung des Senats nicht veranlasst (vgl. Senatsurteil vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 25). Mit Urteil vom 19. Juli 2023 (IV ZR 268/21, BGHZ 238, 32) hat der Senat in diesem Zusammenhang zudem entschieden und im Einzelnen begründet, dass auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union daran festzuhalten ist, dass die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise Treu und Glauben (§ 242 BGB) widersprechen und damit unzulässig sein kann, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind, und zu diesem Einwand eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht geboten ist (Senatsurteil vom 19. Juli 2023 aaO Rn. 9, 13 ff.).
Das Berufungsgericht hat - neben der Klärung der Frage der Aktivlegitimation der Klägerin - zunächst im Rahmen der ihm obliegenden tatrichterlichen Würdigung festzustellen, ob besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen mit der Folge, dass die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen könnte (vgl. Senatsurteil vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 25).
2. Der Senat hat keinen Anlass gesehen, entsprechend der Anregung der Revision von der Regelung des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch zu machen.
Prof. Dr. Karczewski Harsdorf-Gebhardt Dr. Bußmann Dr. Bommel Piontek Vorinstanzen: LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 27.05.2022 - 2-30 O 325/21 OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 08.12.2022 - 3 U 175/22 -