XII ZB 271/24
BUNDESGERICHTSHOF XII ZB 271/24 BESCHLUSS vom 12. November 2025 in der Unterbringungssache ECLI:DE:BGH:2025:121125BXIIZB271.24.0 Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. November 2025 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Prof. Dr. Klinkhammer, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger und die Richterin Dr. Krüger beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Vechta vom 25. April 2024 und der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 23. Mai 2024 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben. Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei. Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt. Eine Wertfestsetzung (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe: I.
Die Betroffene wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte gerichtliche Genehmigung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme. Die Betroffene leidet an einer schizoaffektiven Störung mit vorwiegend wahnhaften und manischen Anteilen. Das Amtsgericht hat nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens und Anhörung der in einer psychiatrischen Klinik untergebrachten Betroffenen die Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsmedikation bis zum
25. Juli 2024 genehmigt. Auf die dagegen eingelegte Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht den Genehmigungszeitraum bis zum 5. Juni 2024 verkürzt.
Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene die Feststellung, dass beide Beschlüsse sie in ihren Rechten verletzt haben.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts.
1. Die Rechtsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass der Betroffenen das Sachverständigengutachten, auf das sich das Amtsgericht bei seiner Entscheidung gestützt hat, nicht übermittelt worden ist.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 316 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht diesen Maßgaben entsprechend ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG und zugleich liegt darin auch ein Mangel der nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG erforderlichen persönlichen Anhörung des Betroffenen (Senatsbeschluss vom 28. August 2024 - XII ZB 206/24 FamRZ 2024, 1900 Rn. 9 mwN).
b) Den genannten Anforderungen ist das Amtsgericht nicht gerecht geworden. Den Gerichtsakten lässt sich nicht entnehmen, dass der Betroffenen das Sachverständigengutachten ausgehändigt worden ist.
2. Ebenfalls zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde, dass das Landgericht die Überlassung des Sachverständigengutachtens nicht nachgeholt hat und auch die Beschwerdeentscheidung mithin rechtswidrig ergangen ist.
3. Auf den Antrag der Betroffenen ist daher entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG durch den Senat auszusprechen, dass die durch Zeitablauf erledigten Beschlüsse der beiden Vorinstanzen die Betroffene in ihrer durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Integrität und in ihrem vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mitumfassten Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer körperlichen Integrität (vgl. Senatsbeschluss vom 28. August 2024 - XII ZB 206/24 - FamRZ 2024, 1900 Rn. 13 mwN) verletzt haben.
Die Feststellung nach § 62 FamFG, dass ein Betroffener durch eine Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Sie ist jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel eines rechtswidrigen Eingriffs in eine grundrechtlich geschützte Position des Betroffenen hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist. Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen - wie hier - nicht bekannt gegeben, liegt eine Gehörsverletzung vor, die so gewichtig ist, dass sie die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil sie einer Verwertung des gemäß § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senatsbeschluss vom 28. August 2024 - XII ZB 206/24 - FamRZ 2024, 1900 Rn. 14 mwN).
Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zu der ärztlichen Zwangsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Denn diese Zustimmung bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 28. August 2024 - XII ZB 206/24 - FamRZ 2024, 1900 Rn. 15 mwN).
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Guhling Nedden-Boeger Klinkhammer Krüger Günter Vorinstanzen: AG Vechta, Entscheidung vom 25.04.2024 - 14 XVII M 1031 LG Oldenburg, Entscheidung vom 23.05.2024 - 8 T 254/24 -