XI ZB 12/21
BUNDESGERICHTSHOF XI ZB 12/21 BESCHLUSS vom 15. Februar 2022 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2022:150222BXIZB12.21.0 Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Ellenberger, den Richter Dr. Grüneberg sowie die Richterinnen Dr. Menges, Dr. Derstadt und Ettl am 15. Februar 2022 beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 12. Juli 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Beschwerdewert: bis 45.000 €
Gründe: I.
Der Kläger verlangt von der beklagten Bank die Rückabwicklung eines mit ihr geschlossenen Verbraucherdarlehensvertrags. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 29. Januar 2021, zugestellt am 3. Februar 2021, abgewiesen. Dagegen hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers am 3. März 2021 Berufung eingelegt. Bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 6. April 2021 ist bei dem Berufungsgericht keine Berufungsbegründung eingegangen. Mit Schriftsatz vom 7. April 2021 hat der Kläger gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und zugleich die Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 3. Mai 2021 beantragt; zur Begründung hat er vorgetragen, seiner Prozessbevollmächtigten sei am 6. April 2021 eine Übermittlung des Fristverlängerungsantrags an das Berufungsgericht aus nicht in ihrer Sphäre liegenden technischen Gründen misslungen.
Mit Verfügung vom 12. April 2021 hat das Berufungsgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass sein Wiedereinsetzungsantrag noch substantiierungsbedürftig sei, und hierfür eine Frist bis 30. April 2021 gesetzt. Mit Verfügung vom 7. Mai 2021 hat das Berufungsgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass es die Berufung derzeit für unzulässig halte und beabsichtige, den Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen. Unter Überschneidung mit dieser Verfügung hat der Kläger mit Schriftsatz vom 7. Mai 2021 seinen Vortrag zu den gescheiterten Übermittlungsversuchen näher erläutert. Daraufhin hat das Berufungsgericht mit Verfügung vom 10. Mai 2021 den Kläger darauf hingewiesen, dass bislang noch keine Berufungsbegründung eingegangen sei und deshalb seine Berufung unabhängig von der Frage nach einer unverschuldeten Fristversäumung unzulässig sein dürfte. Dazu hat der Kläger mit Schriftsatz vom 24. Mai 2021 vorgetragen, seine Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsbegründung am 23. April 2021 gefertigt und am Abend desselben Tages zur Post gegeben; insoweit hat er sich zum Beweis unter anderem auf die Berufungsbegründung vom 23. April 2021 bezogen und diese dem Schriftsatz vom 24. Mai 2021 beigefügt.
Mit Verfügung vom 21. Juni 2021 hat das Berufungsgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass er unabhängig von allem anderen jedenfalls entgegen § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht die Berufungsbegründung binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses vorgelegt habe. Soweit ihm auch Wiedereinsetzung hätte gewährt werden können, falls die am 23. April 2021 zur Post gegebene Berufungsbegründung tatsächlich verloren gegangen sein sollte, fehle es an der fristgerechten Nachholung der versäumten Handlung, weil eine Berufungsbegründung bis zum 21. Juni 2021 nicht eingegangen sei; die Vorlage der Berufungsbegründung am 24. Mai 2021 genüge nicht, weil dies ausdrücklich lediglich zu Beweiszwecken erfolgt sei. Dem ist der Kläger innerhalb gesetzter Frist mit Schriftsatz vom 6. Juli 2021 entgegengetreten und hat unter erneuter Beifügung der Berufungsbegründung vom 23. April 2021 klargestellt, dass diese nicht zu Beweiszwecken, sondern als bestimmender Schriftsatz eingereicht worden sei.
Mit Beschluss vom 12. Juli 2021 hat das Berufungsgericht den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und dessen Berufung als unzulässig verworfen. Die Berufungsbegründungsfrist sei am 6. April 2021 abgelaufen und eine Berufungsbegründung sei bislang nicht eingegangen. Das am 24. Mai 2021 eingereichte Dokument stelle keine Berufungsbegründung dar. Eine wirksame Berufungsbegründung setze voraus, dass der fragliche Schriftsatz zur Begründung der Berufung bestimmt sei. Ein ersichtlich nicht zur Berufungsbegründung bestimmter Schriftsatz genüge nicht. So liege der Fall hier. Aus Aufbau und Formulierung der klägerischen Stellungnahme vom 24. Mai 2021 ergebe sich eindeutig und zweifelsfrei, dass die Vorlage der Berufungsbegründung ausschließlich zu Beweiszwecken im Hinblick auf den Vortrag zur Übersendung der Berufungsbegründung per Post erfolgt sei. Die Berufungsbegründung sei auf den 23. April 2021 datiert gewesen, so dass mit Blick auf das überholte Datum es nicht selbstverständlich sei, dass die Berufung nach wie vor so begründet werden sollte. Daran ändere auch nichts, dass das Dokument von der Prozessbevollmächtigten des Klägers signiert gewesen sei und grundsätzlich den Anforderungen des § 130a ZPO hätte genügen können. Dies zeige auch eine Parallelüberlegung zur Einreichung eines Prozesskostenhilfeantrags, dem zur Begründung der Entwurf einer Klageschrift beigefügt sei. Insoweit falle auch nicht ins Gewicht, dass die Berufungsbegründung auf dem Schriftsatz selbst nicht als Anlage gekennzeichnet sei. Soweit im Schriftsatz des Klägers vom 24. Mai 2021 ein Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Vorlagefrist des § 236 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu sehen sei, sei demnach die versäumte Prozesshandlung nach wie vor nicht nachgeholt und die fehlende Nachholung nicht entschuldigt, so dass Wiedereinsetzung nicht zu gewähren sei.
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Sie ist auch in der Sache begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und die Verwerfung der Berufung als unzulässig, weil es an einer ordnungsgemäßen Begründung der Berufung fehle, verletzt den Kläger in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) sowie auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Berufungsbegründungspflicht nicht schon dann Genüge getan, wenn innerhalb der Begründungsfrist ein Schriftsatz eines zugelassenen Anwalts eingeht, der inhaltlich den Anforderungen des § 522 Abs. 3 ZPO entspricht. Der Schriftsatz muss vielmehr zur Begründung der Berufung bestimmt sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Februar 1977 - IV ZB 54/76, VersR 1977, 570 und vom 16. Oktober 1985 - VIII ZB 15/85, VersR 1986, 91). Mit ihm muss nach außen belegt werden, dass der Anwalt den Prozessstoff selbst überprüft hat und es sich um das Ergebnis seiner geistigen Tätigkeit handelt (vgl. Senatsbeschluss vom 10. März 1998 - XI ZB 1/98, NJW 1998, 1647). Da im Allgemeinen keine Partei die mit der Versäumung einer Rechtsmittel(begründungs)frist verbundenen prozessualen Nachteile in Kauf nehmen will, ist in der Regel zu vermuten, dass ein inhaltlich den Anforderungen des § 522 Abs. 3 ZPO entsprechender Schriftsatz als Berufungsbegründung dienen soll, sofern nicht ein anderer Wille des Berufungsklägers erkennbar ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Oktober 1985 aaO und vom 2. April 1998 - I ZB 7/98, NJW-RR 1998, 1362 f.). Für die Berufungsbegründung gilt im Rahmen der Nachholung einer versäumten Prozesshandlung nach § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO nichts Anderes.
2. Nach diesen Maßgaben hat das Berufungsgericht zu Unrecht verneint, dass der Kläger mit dem Schriftsatz vom 24. Mai 2021 auch die auf den 23. April 2021 datierte Berufungsbegründungsschrift eingereicht hat.
Die Berufungsbegründung vom 23. April 2021 entspricht inhaltlich den Anforderungen des § 522 Abs. 3 ZPO. Sie ist mit "Berufungsbegründung gem. §§ 511 ff ZPO" überschrieben. Im Schriftsatz vom 24. Mai 2021 wird sie zwar als "Anlage K 1" zum "Beweis" für das Vorbringen des Klägers angeführt, seine Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsbegründung am 23. April 2021 gefertigt und zur Post gegeben. Hierdurch wird aber die Vermutung nicht entkräftet, dass die Ausführungen (auch) der Begründung der Berufung dienen sollten. Insoweit fehlen Anhaltspunkte für einen entgegenstehenden Willen des Klägers. Nach der prozessualen Lage und insbesondere dem vorherigen Hinweis des Berufungsgerichts vom 10. Mai 2021, dass eine Berufungsbegründung noch nicht eingegangen sei, bestand für den Kläger kein vernünftiger Anlass, die Berufungsbegründung zumindest aus Gründen äußerster Vorsicht nicht nochmals einzureichen. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Berufungsbegründung nicht als "Anlage" gekennzeichnet worden ist.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die vorliegende Fallkonstellation nicht mit der Einreichung einer Klageschrift als Anlage und zur Begründung eines Prozesskostenhilfeantrags vergleichbar. Bei der mit dem Schriftsatz vom 24. Mai 2021 übersandten Berufungsbegründung handelte es sich nicht um einen bloßen Entwurf. Ganz im Gegenteil hatte die Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsbegründung nach seinem Vorbringen bereits zuvor zur Post gegeben, um sie als solche beim Berufungsgericht einzureichen, so dass davon auszugehen ist, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Prozessstoff selbst überprüft hat und es sich um das Ergebnis ihrer geistigen Tätigkeit handelt. Damit war der Schriftsatz zur Begründung der Berufung bestimmt. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Schriftsatz (weiterhin) das Datum des 23. April 2021 trug; vielmehr war dies vom Standpunkt des Klägers aus nur folgerichtig.
III.
Da sich auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts die angefochtene Entscheidung nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 577 Abs. 3 ZPO) und auch nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO), ist sie aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Ellenberger Derstadt Grüneberg Ettl Vorinstanzen: LG Stuttgart, Entscheidung vom 29.01.2021 - 29 O 454/20 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 12.07.2021 - 6 U 95/21 - Menges