VIa ZR 1410/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL VIa ZR 1410/22 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2025:180625UVIAZR1410.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 4. Juni 2025 eingereicht werden konnten, durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende sowie die Richter Messing, Dr. F. Schmidt, Dr. Ostwaldt und Dr. Tausch für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 5. September 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 35.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand: 1 Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch. Er erwarb im Juni 2015 von einem Dritten einen gebrauchten Audi A6 Avant 3.0 TDI, der mit einem Dieselmotor (Schadstoffklasse Euro 5) ausgestattet ist.
Der Kläger hat unter Anrechnung einer bezifferten Nutzungsentschädigung Rückzahlung des Kaufpreises nebst Zinsen zuzüglich Finanzierungkosten Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs und die Feststellung des Annahmeverzugs sowie Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen verlangt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe: 3 Die Revision hat Erfolg.
I. 4 Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet: 5 Der Kläger habe keine Schadensersatzansprüche gemäß §§ 826, 31 BGB wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. Für die Annahme von Sittenwidrigkeit bedürfe es neben dem Vorliegen von nach den europarechtlichen Vorschriften unzulässigen Abschalteinrichtungen zusätzlicher Umstände. Deshalb könne insbesondere die Unzulässigkeit des unstreitig in dem Fahrzeug verbauten Thermofensters unterstellt werden. Der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit setze voraus, dass die seitens der Beklagten handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems im Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Anhaltspunkte für wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben der Beklagten im Typgenehmigungsverfahren, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten würden, ergäben sich aus dem Vortrag des Klägers nicht. Dies gelte umso mehr, als es sich bei dem Thermofenster um einen gängigen Industriestandard handele, der dem KBA zum Zeitpunkt der Typgenehmigung für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp durchaus bekannt gewesen sei.
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV beziehungsweise Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 stehe dem Kläger nicht zu, weil der geltend gemachte Schaden nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vom Schutzzweck der vorgenannten Vorschriften erfasst sei.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB wegen des Fehlens einer Sittenwidrigkeit verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar im Ergebnis zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung des sogenannten "großen" Schadenersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Die Berufungsentscheidung ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO), weil sie sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Die Sache ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Ostwaldt Messing Tausch F. Schmidt Vorinstanzen: LG Ingolstadt, Entscheidung vom 03.09.2021 - 31 O 3930/20 Die OLG München, Entscheidung vom 05.09.2022 - 8 U 6927/21 - Verkündet am: 18. Juni 2025 Neumayer, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle