X ARZ 559/24
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS X ARZ 559/24 vom
11. März 2025 in dem Gerichtsstandsbestimmungsverfahren ECLI:DE:BGH:2025:110325BXARZ559.24.0 Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. März 2025 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Bacher, die Richterin Dr. Marx, die Richter Dr. Rensen und Dr. Crummenerl und die Richterin Dr. von Pückler beschlossen:
Zuständig ist das Landgericht Duisburg.
Gründe:
I. Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung von Behandlungskosten und Schmerzensgeld infolge einer Kündigung und eines Hausverbots.
Die Beklagte ist eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung zur Eingliederung in Arbeit anbietet.
Die Klägerin war als Arbeitssuchende, die Entgeltleistungen nach dem SGB II erhält, der Beklagten durch Zuweisungsbescheid des Jobcenters Duisburg im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung vom 1. Februar 2018 bis 31. Januar 2019 zugewiesen. Die zwischen der Klägerin und der Beklagten geschlossene Beschäftigungsvereinbarung vom 9. Januar 2018 sah eine Wochenarbeitszeit von maximal 30 Stunden und eine Mehraufwandsentschädigung von 2 Euro je Arbeitsstunde vor.
Am 19. Dezember 2018 sprach die Beklagte gegenüber der Klägerin eine fristlose Kündigung sowie ein Hausverbot aus und forderte sie zum sofortigen Verlassen des Betriebsgeländes auf. Die Klägerin macht geltend, sie sei dabei von einem Mitarbeiter der Beklagten mit den Händen die Treppe hinuntergeschoben und unter lautstarker Wiederholung der Kündigung und des Hausverbots in Anwesenheit anderer hinauskomplementiert worden. Der dadurch ausgelöste Stress habe am Abend zu einem Herzanfall mit dreißigminütiger notärztlicher Wiederbelebung, mehreren stationären Krankenhausbehandlungen und einer Dauererkrankung geführt.
Mit ihrer vor dem Sozialgericht Duisburg erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der Kündigung und des Hausverbotes vom 19. Dezember 2018, die Zahlung entgangener Mehraufwandsentschädigung in Höhe von 228 Euro nebst Zinsen, die Erstattung von Zuzahlungen für ihre stationären Krankenhausbehandlungen in Höhe von 80 Euro und die Zahlung eines Schmerzensgeldes nebst Rechtshängigkeitszinsen begehrt.
Mit Verfügung vom 4. Mai 2020 hat das Sozialgericht den Parteien mitgeteilt, der Rechtsweg zu den Sozialgerichten sei jedenfalls für die Anträge 2 bis 4 gegeben.
In der mündlichen Verhandlung vom 12. Juni 2024 hat die Klägerin das Angebot der Beklagten, die fristlose Kündigung und das Hausverbot aufzuheben und der Klägerin die entgangene Mehraufwandsentschädigung zu erstatten, angenommen und den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt. Das Sozialgericht hat die Parteien sodann darauf hingewiesen, dass die verbleibenden Ansprüche auf Übernahme der Behandlungskosten und Schmerzensgeld als zivilrechtliche oder amtshaftungsrechtliche Ansprüche beim Zivilgericht (Landgericht) geltend gemacht werden müssten. Anschließend hat es den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nach § 51 SGG für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Duisburg verwiesen.
Das Landgericht hat sich mit Beschluss vom 22. November 2024 seinerseits für unzuständig erklärt und die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Es hält den Verweisungsbeschluss für nicht bindend, da die Klägerin die Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Vertrag ableite und deshalb die Zuständigkeit des Sozialgerichts nach § 51 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a SGG gegeben sei.
II. Das zuständige Gericht ist in entsprechender Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu bestimmen.
1. Bei negativen Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige ist § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO entsprechend anwendbar. Obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine - regelmäßig deklaratorische - Zuständigkeitsbestimmung entsprechend § 36 Abs.1 Nr. 6 ZPO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit dann geboten, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten, oder die Verfahrensweise eines Gerichts die Annahme rechtfertigt, dass der Rechtsstreit von diesem nicht prozessordnungsgemäß gefördert werden wird, obwohl er gemäß § 17b Abs. 1 GVG vor ihm anhängig ist (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2013 - X ARZ 167/13, NJOZ 2014, 446 Rn. 5; Beschluss vom 2. Oktober 2018 - X ARZ 482/18, NJOZ 2019, 487 Rn. 5).
So liegt der Fall hier.
Sowohl das Sozialgericht als auch das Landgericht haben eine inhaltliche Befassung mit der Sache abgelehnt.
2. Der Bundesgerichtshof ist für die Entscheidung zuständig.
Sofern zwei Gerichte unterschiedlicher Rechtswege ihre Zuständigkeit verneint haben, obliegt die Bestimmung des zuständigen Gerichts demjenigen obersten Gerichtshof des Bundes, der zuerst darum angegangen wird (BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 - X ARZ 76/17, NJW-RR 2017, 1215 Rn. 6).
III. Zuständig ist das Landgericht Duisburg.
Die Zuständigkeit ergibt sich aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Sozialgerichts (§ 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG).
1. Ein nach § 17a GVG ergangener Beschluss, mit dem ein Gericht den zu ihm beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Gericht eines anderen Rechtswegs verwiesen hat, ist einer weiteren Überprüfung entzogen, sobald er unanfechtbar geworden ist. Ist das zulässige Rechtsmittel nicht eingelegt worden oder ist es erfolglos geblieben oder zurückgenommen worden, ist die Verweisung für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindend (vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2017 - X ARZ 326/17, NJW-RR 2018, 250 Rn. 10).
Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.
Der Verweisungsbeschluss ist von den Parteien nicht angefochten worden.
2. Der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses vom 12. Juni 2024 steht nicht entgegen, dass dieser erheblichen rechtlichen Zweifeln unterliegt.
a) Wie auch das Landgericht im Ansatz nicht verkannt hat, ist die Korrektur einer bindenden Entscheidung im Verfahren entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar.
Beide Parteien können einen nach ihrer Auffassung fehlerhaften Beschluss nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG mit der sofortigen Beschwerde anfechten. Machen sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, besteht grundsätzlich kein Anlass, dem Gericht des für zulässig erklärten Rechtswegs die Befugnis zuzubilligen, sich an die Stelle des Rechtsmittelgerichts zu setzen (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2013 - X ARZ 167/13, MDR 2013, 1242 Rn. 12; Beschluss vom 24. Oktober 2017 - X ARZ 326/17, NJW-RR 2018, 250 Rn. 18).
Eine Durchbrechung dieser Bindungswirkung kommt demnach allenfalls bei, wie es das Bundesverwaltungsgericht formuliert hat (BVerwG, Beschluss vom 8. November 1994 - 9 AV 1/94, NVwZ 1995, 372), "extremen Verstößen" gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften in Betracht, etwa wenn sich die Verweisungsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. April 2024 - X ARZ 101/24, NJW-RR 2024, 994 Rn. 27).
b) Der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts leidet nicht an derart schweren Mängeln.
aa) Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, spricht allerdings vieles dafür, dass das Sozialgericht für die noch anhängigen Ansprüche auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden nach § 51 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a SGG jedenfalls insoweit zuständig ist, als diese Ansprüche auf das durch die Zuweisung begründete besondere Rechtsverhältnis zwischen den Parteien gestützt werden.
Nach der von beiden beteiligten Gerichten zitierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesozialgerichts besteht bei Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Maßnahmeträger kein privatrechtliches Beschäftigungsverhältnis oder Arbeitsverhältnis, sondern ein von Rechtssätzen des öffentlichen Rechts geprägtes Rechtsverhältnis (BAG, Beschluss vom 8. November 2006 - 5 AZB 36/06, NJW 2007, 1227 Rn. 11; Beschluss vom 17. Januar 2007 - 5 AZB 43/06, NZA 2007, 644 = NJW 2007, 3303 Rn. 11; Urteil vom 20. Februar 2008 - 5 AZR 290/07, NZA-RR 2008, 401 Rn. 17; BSG, Urteil vom 27. August 2011 - B 4 AS 1/10 R, BSGE 109, 70 = NJOZ 2012, 1428 Rn. 17; ebenso Voelzke in Hauck/Noftz SGB II, 9. EGL 2024, § 16d SGB 2 Rn. 119 ff.; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt SGG/Keller, 14. Aufl. 2023, SGG § 51 Rn. 29b; Steppler/
Denecke, NZA 2013, 482, 484; Pattar, SGB 2012, 631, 635 ("Vertragsplacebo"); Zwanziger, AuR 2005, 8, 10 ("öffentlich-rechtlicher Vertrag")).
Innerhalb dieses Rechtsverhältnisses trifft den Maßnahmeträger eine Fürsorge- und Schutzpflicht gegenüber dem Leistungsberechtigten, die ihren Ausdruck in der Beachtung von Arbeitsvorschriften nach § 16d Abs. 7 Satz 2 SGB II findet (Harks in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. (Stand: 17.12.2024), § 16d Rn. 110; Bittner/Pfeffer in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 11. Aufl. 2024, § 16d SGB 2 Rn. 11).
bb) Dennoch begründet die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht keinen extremen Verstoß gegen die Zuständigkeitsordnung im oben aufgezeigten Sinne.
Da die Klägerin ihre Ansprüche auch auf eine Gesundheitsverletzung stützt, kommt auch eine deliktsrechtliche Haftung der Beklagten nach § 823 BGB in Betracht. Zur Entscheidung über solche Ansprüche wäre nach § 202 SGG und § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG zwar ebenfalls das Sozialgericht zuständig, weil es sich um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt. Dennoch stellt es keinen extremen Verstoß gegen die Zuständigkeitsordnung dar, wenn solche Ansprüche vor dem Landgericht anhängig gemacht werden, das nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG ebenfalls verpflichtet ist, den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden (zu letzterem etwa BGH, Urteil vom 28. Februar 1991 - III ZR 53/90, BGHZ 114, 1 = NJW 1991, 1686, 1687; Beschluss vom 10. Dezember 2002 - X ARZ 208/02, BGHZ 153, 173 = NJW 2003, 828, 829; Beschluss vom 9. Februar 2021 - VIII ZB 20/20, BGHZ 228, 373 = NVwZ 2021, 660 Rn. 22).
cc) Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Frage kommt, wenn der Verweisungsbeschluss keine ausreichende Begründung enthält, kann offenbleiben.
Der Verweisungsbeschluss vom 12. Juni 2024 enthält zwar keine Begründung dafür, weshalb das Sozialgericht die Voraussetzungen von § 51 SGG als nicht erfüllt ansieht. Die Gründe, auf denen diese Entscheidung beruht, lassen sich aber - noch - hinreichend deutlich dem Hinweis entnehmen, den das Sozialgericht in der dem Beschluss vorangegangenen mündlichen Verhandlung erteilt hat.
dd) Offenbleiben kann ferner, ob die Bindungswirkung eines Beschlusses gemäß § 17a Abs. 1 GVG, mit dem ein Gericht den zu ihm beschrittenen Rechtsweg für zulässig erklärt hat, zur Unwirksamkeit einer dazu in Widerspruch stehenden Verweisung führt.
(1) Im Streitfall hat das Sozialgericht den Parteien zwar mit Verfügung vom 4. Mai 2020 mitgeteilt, die Zuständigkeit des Sozialgerichts sei jedenfalls für die Klageanträge 2 bis 4 gegeben. Hierbei handelte es sich aber nicht um einen Beschluss nach § 17a Abs. 1 GVG, sondern lediglich um einen Hinweis.
(2) Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht führt ebenfalls nicht zu einer Selbstbindung.
Ein Verweisungsbeschluss im Prozesskostenhilfeverfahren kann eine Bindungswirkung nur für das Verfahren über die Gewährung der beantragten Prozesskostenhilfe entfalten, nicht auch für ein darauffolgendes Hauptsacheverfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 1991 - I ARZ 748/90; NJW-RR 1992, 59 f.; Beschluss vom 30. Juli 2009 - Xa ARZ 167/09, NJW-RR 2010, 209 Rn. 15).
Für eine vor Rechtshängigkeit im isolierten Prozesskostenhilfeverfahren ergangene positive Vorabentscheidung über den Rechtsweg kann nichts Weitergehendes gelten.
(3) Der Eintritt in die Beweisaufnahme durch das Sozialgericht begründet ebenfalls keine Selbstbindung.
Dem Gericht steht es gemäß § 17a Abs. 4 Satz 1 GVG frei, vor einer Verweisung mündlich zu verhandeln. Dass mehrere mündliche Verhandlungen durchgeführt und diese teils mit einer Beweisaufnahme in der Hauptsache verbunden werden, entspricht zwar nicht dem Grundsatz einer möglichst frühzeitigen Bestimmung der Zuständigkeit, führt jedoch nicht zu einer Bindungswirkung.
(4) Entgegen der Auffassung des Landgerichts erweist sich der Verweisungsbeschluss auch unter Berücksichtigung des Verfahrensablaufs nicht als willkürlich.
Der Wechsel einer Rechtsauffassung hinsichtlich der Rechtswegzuständigkeit bei fortgeschrittener Verfahrensdauer hin zu einer zweifelbehaften, aber noch vertretbaren Rechtsauffassung rechtfertigt selbst bei knapper Begründung noch nicht den Vorwurf einer rechtsgrundlosen und unhaltbaren Verweisungsentscheidung.
Bacher Marx Rensen Crummenerl von Pückler Vorinstanz: LG Duisburg, Entscheidung vom 22.11.2024 - 4 O 299/24 -