VIa ZR 161/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 161/22 URTEIL in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2024:180624UVIAZR161.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 29. Mai 2024 eingereicht werden konnten, durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterin Möhring, die Richter Dr. Götz, Dr. Rensen und die Richterin Wille für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 29. Dezember 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Berufungsantrag zu 1 in Höhe von 9.914,01 € nebst Prozesszinsen und der Berufungsantrag zu 3 zurückgewiesen worden sind.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 10.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger erwarb im Dezember 2017 von einem Dritten einen gebrauchten VW Passat Alltrack, dessen Kaufpreis er über die Volkswagen-Bank finanzierte. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 288 2.0 TDI BiTurbo (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet. Fahrzeug und Motor sind von der Beklagten hergestellt worden. Während des laufenden Berufungsverfahren veräußerte der Kläger das Fahrzeug weiter.
Das Landgericht hat die im Wesentlichen auf Rückabwicklung von Kaufund Darlehensvertrag gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung, mit welcher der Kläger (neben diversen Hilfsanträge) in erster Linie die Verurteilung zur Zahlung von 9.914,01 € zuzüglich Zinsen seit dem 29. Dezember 2017 (Berufungsantrag zu 1) und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Prozesszinsen (Berufungsantrag zu 3) und die Feststellung des Annahmeverzugs (Berufungsantrag zu 2) begehrt hat, ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Berufungsgericht umfassend zugelassenen Revision verfolgt der Kläger nur noch den Zahlungsantrag in Höhe von 9.914,01 € nebst Prozesszinsen (Berufungsantrag zu 1) und den Antrag auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nebst Prozesszinsen (Berufungsantrag zu 3) weiter. Der Berufungsantrag zu 2 auf Feststellung des Annahmeverzugs und die diversen Hilfsanträge werden mit der Revision nicht weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung bestehe nicht. Es könne offenbleiben, ob die vom Kläger konkret gerügten Funktionen - "Thermofenster", zwei unterschiedliche Betriebsmodi für die AdBlue-Dosierung, je nachdem, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder auf der Straße befindet - unzulässige Abschalteinrichtungen seien. Jedenfalls fehle es diesbezüglich, aber auch für die behauptete Manipulation des On-Bord-Diagnose (OBD) - Systems an einem verwerflichen Handeln der Beklagten, mithin an einem sittenwidrigen Gepräge.
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheide aus, weil es sich bei den genannten Regelungen nicht um Schutzgesetze handele.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat.
a) Es hat in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung hinsichtlich des "Thermofensters" einen Anspruch des Klägers mangels Prüfstandsbezogenheit der revisionsrechtlich als unzulässig zu unterstellenden Abschalteinrichtung und wegen Fehlens weiterer für die Sittenwidrigkeit sprechender Umstände ausgeschlossen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 16 ff.; Urteil vom 16. September 2021 - VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721 Rn. 12 ff.; Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR
335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 48; Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 12).
b) Hinsichtlich der zwei unterschiedlichen Programme bei der Dosierung von AdBlue hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler die Indizwirkung einer Software, welche ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, für eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde (vgl. dazu BGH, Urteil vom 6. November 2023 - VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 11 mwN) im Hinblick darauf entfallen lassen, dass die Beklagte - jedenfalls nicht unvertretbar - angenommen habe, die Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2c der VO (EG) Nr. 715/2007 greife ein. Danach sei eine Abschalteinrichtung nicht unzulässig, wenn die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten seien; ferner sei die Platzierung der Abschaltvorrichtung zur Herstellung von vergleichbaren Ergebnissen im Prüfverfahren erfolgt. An diese Feststellung ist der Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden.
c) Ohne Erfolg beanstandet die Revision, das OBD-System begründe eine Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts und damit die Sittenwidrigkeit. Dass die vom Kläger gerügten Abschalteinrichtungen nicht als technische Fehlermeldung im OBD-System angezeigt werden, rechtfertigt nicht den Vorwurf der Sittenwidrigkeit (vgl. zum OBD-System BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 - VIII ZR 190/19, BGHZ 232, 94 Rn. 90 f.; vgl. zur Sittenwidrigkeit BGH, Urteil vom 23. November 2021 - VI ZR 839/20, NJW-RR 2022, 309 Rn. 20; BGH, Urteil vom 24. Oktober 2023 -VI ZR 493/20, WM 2024, 36 Rn. 20).
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Das Berufungsurteil ist demnach in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil es sich im Übrigen auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher in diesem Umfang zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 ff.) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und gegebenenfalls dem Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Rensen Möhring Wille Götz Vorinstanzen: LG Meiningen, Entscheidung vom 05.02.2020 - (208) 2 O 514/19 OLG Jena, Entscheidung vom 29.12.2021 - 7 U 252/20 - Verkündet am:
18. Juni 2024 Wendt Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
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