VIa ZR 763/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 763/22 URTEIL in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2024:090724UVIAZR763.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 12. Juni 2024 eingereicht werden konnten, durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterin Möhring, die Richter Dr. Rensen, Liepin und die Richterin Dr. Vogt-Beheim für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 22. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 2. Mai 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 40.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung von unzulässigen Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung in Anspruch.
Der Kläger erwarb im Juli 2017 von einem Händler einen gebrauchten Audi A6 Avant 3.0 TDI quattro S-tronic, der mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 897 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist. Die Beklagte hat sowohl das Fahrzeug als auch den Motor hergestellt. Die Emissionskontrolle erfolgt unter Verwendung einer Abgasrückführung, welche bei kühleren Temperaturen zurückgefahren wird. Weiter verfügt das Fahrzeug über einen SCR-Katalysator. Reicht das zur Abgasreinigung im SCR-Katalysator eingesetzte Reagens "AdBlue" nur noch für eine Reichweite von 2.400 km, ändert sich die Dosierstrategie ("Restreichweiten-Regelung"). Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ordnete für das streitgegenständliche Fahrzeug wegen dieser Dosierstrategie einen Rückruf an.
Der Kläger hat die Erstattung des Kaufpreises zuzüglich des Entgelts für den Kauf und die Montage von Sommerreifen abzüglich einer nach einer im Antrag wiedergegebenen Formel zu berechnenden Nutzungsentschädigung nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs und die Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nebst Rechtshängigkeitszinsen begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schlussanträge aus der Berufungsinstanz weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Ein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB bestehe nicht. Bei einer umfassenden Würdigung des Sachvortrags beider Parteien und Bewertung des Verhaltens der Beklagten ergebe sich weder im Hinblick auf das unstreitig implementierte "Thermofenster", dessen Unzulässigkeit unterstellt werde, noch im Hinblick auf die "Restreichweiten-Regelung", welche eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 darstelle, eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung des Klägers durch den Erwerb des Fahrzeugs. Es fehle hierzu sowohl an der objektiven Sittenwidrigkeit als auch am Schädigungsvorsatz. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheitere daran, dass es sich bei diesen Vorschriften nicht um Schutzgesetze handele.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine konkreten Einwände.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Urteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Die angefochtene Entscheidung ist aufzuheben, § 562 ZPO, weil sie sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023
(VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Liepin Möhring Rensen Vogt-Beheim Verkündet am 9. Juli 2024 Neumayer, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Vorinstanzen: LG Münster, Entscheidung vom 22.04.2020 - 15 O 61/19 OLG Hamm, Entscheidung vom 02.05.2022 - I-22 U 75/20 -