XIII ZB 65/23
BUNDESGERICHTSHOF XIII ZB 65/23 BESCHLUSS vom 14. Januar 2025 in der Abschiebungshaftsache Nachschlagewerk: ja BGHZ:
nein BGHR:
ja JNEU:
nein AufenthG § 62 Abs. 3b Nr. 2 Welches Gewicht der Aufwendung erheblicher Geldbeträge für die unerlaubte Einreise als konkretem Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung zukommt, ist unter Berücksichtigung der Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung zu ermitteln.
BGH, Beschluss vom 14. Januar 2025 - XIII ZB 65/23 - LG Karlsruhe AG Karlsruhe ECLI:DE:BGH:2025:140125BXIIIZB65.23.0 Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Januar 2025 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterin Dr. Picker und den Richter Dr. Kochendörfer beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2023 und der Beschluss des Landgerichts Karlsruhe - Zivilkammer XI - vom 10. November 2023 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land Baden-Württemberg auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I. Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 2013 in das Bundesgebiet ein. Sein unter Aliaspersonalien gestellter Asylantrag wurde abgelehnt, er wurde zur Ausreise aufgefordert und ihm wurde die Abschiebung angedroht. Mit Urteil vom 4. April 2017 wurde er wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Geldstrafe verurteilt. Seit dem 18. September 2018 war der Betroffene vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und die Abschiebungsandrohung vollstreckbar. Er wurde zunächst wegen fehlender Reisedokumente geduldet. Nachdem er seit 2018 mehrfach aufgefordert worden war, gültige Reisedokumente einzureichen, legte er am 11. Oktober 2021 einen auf seine zutreffenden Personalien lautenden Reisepass vor. Im Oktober 2023 wurde er aufgrund einer vorläufig bis zum 16. Oktober 2023 angeordneten Freiheitsentziehung in Haft genommen. Nachdem die für den 10. Oktober 2023 geplante Abschiebung wegen eines Asylfolgeantrags gescheitert war, hat das Amtsgericht am 13. Oktober 2023 Abschiebungshaft bis zum 21. November 2023 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung festzustellen.
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Beschwerdegericht hat - soweit hier erheblich - ausgeführt, der Haftgrund der Fluchtgefahr liege vor. Der Betroffene habe für seine Einreise in das Bundesgebiet einen erheblichen Geldbetrag im Sinn von § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG aufgewandt. Für seine Einreise habe er 1,2 Millionen Rupien bezahlt, was nach heutigem Kurs etwa 3.930 € entspreche und das damalige durchschnittliche Jahreseinkommen des Betroffenen um ein Vielfaches übersteige. Das Beschwerdegericht folge der Beschwerde weder im Tatsächlichen noch im Rechtlichen, soweit diese für maßgeblich halte, dass der Betroffene das zur Finanzierung der Kosten aufgenommene Darlehen bereits zurückgezahlt habe. Dem Gesetz lasse sich nicht entnehmen, dass eine solche veränderte Vermögenssituation maßgeblich sein solle. Die Anwendung der Norm wäre dadurch praktisch erheblich erschwert oder unmöglich, weil die veränderte Lebenswirklichkeit schwer zu ermitteln sei. Dass der Betroffene jahrelang in der Bundesrepublik gelebt habe, ohne sich zu verstecken oder unterzutauchen, und sogar am Tag seiner Verhaftung in anderer Sache bei der Polizei vorgesprochen habe, stehe der Annahme von Fluchtgefahr nicht entgegen. Es sei derart naheliegend, dass in einer solchen Situation die Flucht angetreten werde, bis die konkrete Rückführungsmaßnahme vorbei sei, dass die konkrete Gefahr bestehe, der Betroffene werde sich durch Flucht der Abschiebung entziehen.
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerhaft den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bejaht.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 - XIII ZB 2/20, juris Rn. 10 mwN). Dabei sind alle Indizien, die für und gegen die Annahme sprechen, der Ausländer werde sich seiner Abschiebung durch Flucht entziehen, zu berücksichtigen und abzuwägen, wobei auch Umstände Berücksichtigung finden können, die keinen der gesetzlich normierten typisierten Anhaltspunkte erfüllen (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2023 - XIII ZB 29/20, juris Rn. 15). Die tatrichterliche Schlussfolgerung auf die Entziehungsabsicht unterliegt einer Rechtskontrolle nur dahin, ob die verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen eine solche Folgerung als möglich erscheinen lassen; mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, dass die Folgerungen des Tatrichters nicht zwingend seien oder dass eine andere Schlussfolgerung ebenso naheliegt (BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 11/19, juris Rn. 13 mwN; vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 113/19, juris Rn. 19).
b) Auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs ist die Annahme des Beschwerdegerichts, der Betroffene werde sich der Abschiebung entziehen, zu beanstanden. Die von ihm vorgenommene Gesamtwürdigung ist rechtsfehlerhaft, weil es einerseits die Lebenssituation des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftanordnung nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt sowie andererseits zu Lasten des Betroffenen Umstände in seine Abwägung eingestellt hat, die keine Indizien für eine Fluchtgefahr begründen.
aa) Nach § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr sein, dass der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für Einschleusemaßnahmen nach § 96 AufenthG, aufgewandt hat, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass sie den Schluss zulassen, er werde die Abschiebung verhindern, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren. Die Regelung des § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG beruht auf der Annahme, dass die Zahlung erheblicher Geldbeträge für die Einreise den Anreiz schafft, sich der Abschiebung durch Flucht zu entziehen, damit die Aufwendungen sich nicht als vergeblich erweisen (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 25. Februar 2015, BT-Drucks. 18/4097, S. 33; Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 10. Mai 2019, BT-Drucks. 19/10047, S. 42; BGH, Beschlüsse vom 10. Februar 2000 - V ZB 5/00, NVwZ 2000, 965 [juris Rn. 11]; vom 25. Februar 2016 - V ZB 157/15, NVwZ 2016, 1111 Rn. 10; vom 16. Februar 2017 - V ZB 115/16, InfAuslR 2017, 253 Rn. 7).
bb) Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen hat das Beschwerdegericht festgestellt, dass der Betroffene zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge aufgewandt hat, die das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Pakistan 2013 um mehr als das Doppelte überstiegen haben. Das Beschwerdegericht hat bei seiner Betrachtung aber die Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Anordnung der Haft rechtsfehlerhaft außer Acht gelassen und dem von ihm bejahten konkreten Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr daher ein zu hohes Gewicht beigemessen.
(1) Welches Gewicht dem sich aus § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG ergebenden konkreten Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr zukommt, ist unter Berücksichtigung der Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung zu ermitteln. Das ergibt sich schon aus dem Gesetz, weil der Schluss, der Betroffene werde sich der Abschiebung entziehen, wie die Feststellung der Fluchtgefahr selbst auf den Zeitpunkt der Haftanordnung bezogen sein muss. Ein etwaiger Fluchtanreiz kann sich abschwächen, wenn der Ausländer sich bereits länger im Bundesgebiet aufgehalten und über einen Arbeitsplatz verfügt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juli 2023 - XIII ZB 29/20, juris Rn. 20; Bergmann/ Putzar-Sattler in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 22). Er kann sich aber auch verstärken, wenn etwa ein aufgenommenes Darlehen wegen der aufgelaufenen Zinsen zu einer erhöhten Belastung geführt hat.
(2) Das hat das Beschwerdegericht verkannt. Es hat bei seiner Gesamtbetrachtung nicht berücksichtigt, dass die Einreise des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung bereits über zehn Jahre zurücklag, der Betroffene - was sich auch der Ausländerakte entnehmen lässt - in Deutschland einen nicht unerheblichen Zeitraum gearbeitet und ein Einkommen erzielt, sowie geltend gemacht hatte, das für die Einreise aufgenommene Darlehen bereits zurückgezahlt zu haben.
cc) Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die vom Beschwerdegericht vorgenommene Gesamtbetrachtung vor diesem Hintergrund nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht. Das Beschwerdegericht geht zwar zutreffend davon aus, dass feste soziale Bindungen, ein fester, den Behörden bekannter Wohnsitz und regelmäßiger Kontakt zu Behörden der Annahme von Fluchtgefahr grundsätzlich entgegenstehen. Es hat diesen hier erfüllten Umständen aber kein überwiegendes Gewicht beigemessen, weil der Betroffene zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen für eine freiwillige Ausreise unternommen habe und fernliegend sei, dass er sich für eine Abholung am Abreisetag bereithalten werde, weil eine Flucht bei bevorstehender Abschiebung menschlich nachvollziehbar sei. Zu Recht macht die Rechtsbeschwerde geltend, dass dies keine Indizien für eine Fluchtgefahr sind.
c) Das Beschwerdegericht hat auch nicht im Ergebnis zu Recht die Fluchtgefahr bejaht (§ 74 Abs. 2 FamFG; vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. März 2020 - XIII ZB 89/19, juris Rn. 13; vom 11. Juli 2023 - XIII ZA 3/23, juris Rn. 23). Seine Feststellungen, die denjenigen des Amtsgerichts entsprechen und zu denen der Betroffene bereits erstinstanzlich angehört wurde, tragen den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auch dann nicht, wenn die vom Betroffenen 2017 begangene Straftat und die bis 2021 erfolgte Identitätstäuschung in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden. Die Identitätstäuschung hat der Betroffene, auch wenn er sie genutzt hat, um seine Abschiebung mehrere Jahre zu verzögern, letztlich durch den bei den pakistanischen Behörden gestellten Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses und dessen Vorlage bei der beteiligten Behörde selbst aufgeklärt. Er hat sich ferner seit Vorlage des Reisepasses durchgehend an seiner Meldeadresse aufgehalten und Kontakt zu den Behörden gehalten, so etwa am Tag seiner Verhaftung in anderer Sache bei der Polizei vorgesprochen.
3. Der Senat kann gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG in der Sache selbst entscheiden, da der Haftzeitraum abgelaufen ist und etwaige ergänzende Feststellungen zum Haftgrund nicht zu einer rückwirkenden Heilung führen könnten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. August 2020 - XIII ZB 75/19, juris Rn. 20; vom 26. Januar 2021 - XIII ZB 20/20, NVwZ-RR 2021, 595, 596 Rn. 13).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff Picker Roloff Tolkmitt Kochendörfer Vorinstanzen:
AG Karlsruhe, Entscheidung vom 13.10.2023 - 715 XIV 83/23 B LG Karlsruhe, Entscheidung vom 10.11.2023 - 11 T 299/23 -