5 StR 720/24
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES StR 720/24 URTEIL vom 27. Februar 2025 in der Strafsache gegen wegen Vergewaltigung u.a. ECLI:DE:BGH:2025:270225U5STR720.24.0 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 27. Februar 2025, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Cirener,
Richter am Bundesgerichtshof Gericke, Richter am Bundesgerichtshof Köhler, Richter am Bundesgerichtshof von Häfen, Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Werner,
Staatsanwalt als Vertreter des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt N. als Verteidiger,
Rechtsanwalt F.
als Vertreter der Nebenklägerin,
Amtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
-3- Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 21. Juni 2024 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt abgesehen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen - Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Übergriff und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Übergriff verurteilt. Es hat Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren bis zu sechs Jahren und sechs Monaten verhängt, aus denen es eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten gebildet hat. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung oder ihres Vorbehalts hat es abgesehen.
Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten und auf die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt beschränkten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird. Das Rechtsmittel führt im Anfechtungsumfang zur Aufhebung des Urteils.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der nicht vorgeahndete Angeklagte zog im Jahr 2014 im Alter von Jahren zu seiner etwa 13 Jahre älteren Lebensgefährtin B. und deren fünf Kindern, darunter der Sohn J.
die am 13. Mai 2008 geborene Nebenklägerin S. und der am 11. November 2013 geborene Sohn Sa. , für die der Angeklagte die Vaterrolle einnahm.
In der Zeit vom 14. Mai 2017 bis zum 22. Oktober 2023 kam es durch den Angeklagten zu folgenden Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen:
Zwischen dem 14. Mai 2017 und dem 25. Juli 2018 missbrauchte der Angeklagte an drei nicht mehr näher feststellbaren Tagen den am 14. Mai 2005 geborenen Geschädigten R. , einen Freund des J.
. Bei einer Gelegenheit übte der Angeklagte an ihm den Oralverkehr aus und drückte anschließend seinen eigenen erigierten Penis an dessen entblößtes Gesäß. Während eines gemeinsamen Urlaubs manipulierte der Angeklagte am Penis des Geschädigten und drückte anschließend seinen eigenen erigierten Penis an dessen entblößtes Gesäß. Bei einer Autofahrt legte der Angeklagte seine Hand auf den bekleideten Genitalbereich des neben ihm sitzenden Zeugen und massierte dessen Genitalien.
An einem nicht mehr näher feststellbaren Tag zwischen dem 1. Juli und dem 31. Dezember 2019 führte der Angeklagte seine Hand in die Unterhose der damals elfjährigen Nebenklägerin und berührte ihre Vulva.
Im Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2021 vollzog der Angeklagte an der Nebenklägerin den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr und nach diesem Vorfall an einem anderen Tag vor dem 31. Dezember 2021 den ungeschützten Analverkehr.
Im Juli oder August 2023 führte der Angeklagte seine Hand in die Unterhose des neunjährigen Sa. und manipulierte an dessen Penis.
An einem Tag im Zeitraum vom 1. bis zum 20. Oktober 2023 führte der Angeklagte an der 15-jährigen Nebenklägerin den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr und am 22. Oktober 2023 den ungeschützten Analverkehr aus.
2. Die sachverständig beratene Strafkammer ist von erhaltener Schuldfähigkeit des Angeklagten, der eine Exploration durch die psychiatrische Sachverständige abgelehnt hat, bei den Tatbegehungen ausgegangen. Nach der Diagnose lägen eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung und eine nichtausschließliche Pädophilie vor, allerdings nicht in einem Ausmaß, welches ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB erfülle.
3. Das Landgericht hat von der Anordnung der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt gegen den Angeklagten abgesehen. Ein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB liege nicht vor.
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat im Anfechtungsumfang Erfolg.
1. Das Rechtsmittel ist wirksam auf die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB) oder ihres Vorbehalts (§ 66a Abs. 1 und 2 StGB) beschränkt.
Zwar hat die Staatsanwaltschaft den Revisionsantrag auf den (weitergehenden) Rechtsfolgenausspruch bezogen. Damit steht aber der Inhalt der Revisionsbegründung nicht im Einklang, die sich allein mit der beanstandeten Beurteilung der Hangtätereigenschaft des Angeklagten durch die Strafkammer und dem nichtangeordneten Vorbehalt der Sicherungsverwahrung befasst. In einem solchen Fall ist das Ziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGH, Urteil vom 3. August 2022 – 5 StR 203/22 Rn. 13 f.). Daraus folgt hier, dass sich der Rechtsmittelangriff allein gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt richtet. Eine weitergehende Beschränkung auf die unterbliebene Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wäre unwirksam, weil die für die Anordnung einer vorbehaltlosen oder einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zu prüfende Frage des Vorliegens eines Hangs nur einheitlich beantwortet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2018 – 4 StR 253/18 Rn. 9).
2. In der Sache beanstandet die Staatsanwaltschaft zu Recht die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB oder ihres Vorbehalts gemäß § 66a Abs.1 und 2 StGB.
a) Die formellen Voraussetzungen für die fakultative Anordnung der Sicherungsverwahrung liegen vor.
b) Die Begründung, mit der die Strafkammer einen Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verneint hat, hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
aa) Das Landgericht ist im Ansatz vom zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen.
Danach bezeichnet der Hang einen eingeschliffenen inneren Zustand, der den Täter immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Ein Hang liegt danach bei demjenigen vor, der dauerhaft zur Begehung von Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 4. Juli 2024 – 5 StR 632/23 Rn. 14; vom 16. Juni 2020 – 1 StR 502/19 Rn. 24, jeweils mwN). Das Vorliegen eines solchen Hangs hat der Tatrichter unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen. Diese Würdigung bedarf in den Fällen von § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB, bei denen Vortaten und Vorverbüßungen fehlen, besonderer Sorgfalt (vgl. BGH, Urteile vom 7. Dezember 2023 – 5 StR 168/23 Rn. 38; vom 29. November 2018 – 3 StR 300/18, NStZ-RR 2019, 140 f.). Zu berücksichtigen ist auch die zeitliche Verteilung der Straftaten, wobei längere straffreie Zeiträume zwar im Grundsatz, aber nicht zwingend gegen einen Hang sprechen (vgl. BGH, Urteil vom 5. April 2017 – 1 StR 621/16; Beschluss vom 24. Mai 2017 – 1 StR 598/16, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 15).
bb) Gemessen hieran erweist sich die Prüfung der Strafkammer zum Vorliegen eines Hangs als unzureichend, weil die erforderliche Gesamtwürdigung Erörterungsmängel und Widersprüche aufweist.
(1) Als für das Vorliegen eines Hangs sprechende Umstände hat das Landgericht berücksichtigt, dass die nicht spontan begangenen Anlasstaten ausschließlich Sexualdelikte zu Lasten von Kindern und Jugendlichen betrafen und dies für ein eingeschliffenes Verhaltensmuster spreche. Zudem sei die starke Neigung des Angeklagten zu pädosexuellen Handlungen im Zusammenhang mit seiner narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung ein zentraler Risikofaktor bei der Beurteilung einer fest eingewurzelten Neigung zu Sexualstraftaten. Die Strafkammer hat auch das von der psychiatrischen Sachverständigen angenommene statistische mittelgradige bis hohe Rückfallrisiko eingestellt.
(2) Zugunsten des Angeklagten hat das Landgericht berücksichtigt, dass es zwischen den Anlasstaten „auch immer wieder erhebliche delinquenzfreie Zeiten“ gegeben habe, was darauf schließen lasse, dass der Angeklagte „gerade nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit Sexualstraftaten“ begangen habe. Denn man könne sicher davon ausgehen, dass der Angeklagte auch in diesen Zeiten Taten zum Nachteil der im eigenen Haushalt lebenden Kinder hätte begehen können. Diese Erwägungen nehmen wesentliche Umstände nicht in den Blick.
Der Hinweis auf erhebliche delinquenzfreie Zeiträume steht im nicht aufgelösten Widerspruch zu den Angaben der Nebenklägerin S. und des Geschädigten Sa. , die das Landgericht in der Beweiswürdigung dargestellt und für glaubhaft erachtet hat.
Danach hat die Nebenklägerin bekundet, der Angeklagte habe sie schon einmal vor der im Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2019 an ihr begangenen ersten Tat unter der Dusche angefasst und habe an ihr im Anschluss an die zwischen dem 1. Juli und 31. Dezember 2021 verübten Taten zwei- bis dreimal im Monat den Analverkehr vollzogen. An die genauen Zeitpunkte könne sie sich nicht erinnern, es sei „immer das Gleiche gewesen.“
Auch der Geschädigte Sa. hat von mehr als einem Vorfall berichtet. Danach sei er morgens vor der Schule „immer zum Angeklagten ins Schlafzimmer gegangen“, der dann seinen Penis angefasst habe. Dies fügt sich mit der Einlassung des Angeklagten, zu der die Strafkammer in der Beweiswürdigung ausdrücklich anmerkt, dass der Angeklagte „sogar über die Anklage hinaus“ zumindest eine weitere gleichgelagerte Tat zum Nachteil des Geschädigten Sa. im Juli oder August 2023 eingeräumt hat.
Das Landgericht hätte bei der Beurteilung der Hangtätereigenschaft des Angeklagten neben den Anlasstaten auch diese weiteren geschilderten Vorfälle erörtern müssen. Dem steht nicht entgegen, dass diese weder Gegenstand der Anklage noch einer Nachtragsanklage waren. Denn die Strafkammer hat die Angaben der Geschädigten, die neben den verurteilten auch weitere Taten geschildert haben, für glaubhaft erachtet, mithin hätte es sich bei der Annahme deliquenzfreier Zeiten hiermit auseinandersetzen und gegebenenfalls weitere Taten berücksichtigen müssen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2020 – 1 StR 151/20; vom 18. August 2020 – 5 StR 318/20; jeweils eine Anordnung nach § 63 StGB betreffend). Zutreffend hat sie hingegen ausdrücklich davon abgesehen, frühere wegen des Verdachts von Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern geführte und nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellte Ermittlungsverfahren in die Bewertung einzubeziehen.
Das Landgericht hat darüberhinaus in die Gewichtung der delinquenzfreien Zeiträume nicht eingestellt, dass es zuletzt zu einer Zunahme der Tatfrequenz kam – allein in der kurzen Zeit von August bis Oktober 2023 ereigneten sich drei Anlasstaten (vgl. zur Annahme aussagekräftiger delinquenzfreier Zeiträume etwa BGH, Urteile vom 6. Mai 2021 – 3 StR 350/20 Rn. 20; vom 5. April 2017 – 1 StR 621/16; vom 15. Februar 2011 – 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204; vom 17. November 2010 – 2 StR 356/10, NStZ-RR 2011, 77; Beschluss vom 24. Mai 2017 – 1 StR 598/16, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 15).
(3) Das Landgericht hat zu Gunsten des Angeklagten mit „erheblichem Gewicht“ eingestellt, dass dieser nicht vorgeahndet ist. Eine solche Gewichtung verfehlt den rechtlichen Maßstab.
Zwar kann berücksichtigt werden, dass ein Angeklagter in der Lage war, sich über einen längeren Zeitraum straffrei zu führen (vgl. BGH, Urteil vom 17. November 2010 – 2 StR 356/10, NStZ-RR 2011, 77). Wenn aber – wie hier – die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel gegen einen Ersttäter vorliegen, kann nach der Wertung des Gesetzgebers schon allein aus den abgeurteilten Taten ein Hang ableitbar sein (vgl. BGH, Urteile vom 31. Juli 2019 – 2 StR 132/19 Rn. 20; vom 5. April 2017 – 1 StR 621/16 Rn. 11 mwN); dem Fehlen von Vorstrafen kann mithin kein großes Gewicht zugemessen werden (vgl. LK/Peglau, StGB, 13. Aufl., § 66 Rn. 131). Denn die Vorschriften des § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2, § 66a Abs. 1 und 2 StGB ermöglichen neben der Verurteilung zur verwirkten Freiheitsstrafe bereits bei Erstserientätern die Verhängung unbefristeter Freiheitsentziehung in Sicherungsverwahrung zur Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Hangtätern. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, dass sich das Landgericht dieser rechtlichen Maßgaben bewusst war.
(4) Die Strafkammer hat zwar zu Lasten des Angeklagten die Schwere der erheblichen Anlasstaten angeführt. Bis zum Jahr 2021, als es erstmals zum Vaginalverkehr mit der Nebenklägerin gekommen war, sei zudem bei der Schwere der Handlungen eine „gewisse Zunahme zu verzeichnen“. Das diesem Umstand zugemessene Gewicht hat das Landgericht aber im Anschluss mit der Erwägung relativiert, es habe seitdem „keine weitere Steigerung zu schwereren Deliktformen“ gegeben. Damit hat die Strafkammer verkannt, dass eine fehlende Steigerung oder eine Abnahme der Schwere einer Tat nicht gegen eine intensive Neigung zu Rechtsbrüchen spricht. Einen Hang kann auch haben, wer auf gleichbleibendem Niveau oder sogar mit abnehmender Intensität Straftaten begeht (vgl. BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 – 3 StR 196/17 Rn. 13; vom 6. April 2016 – 2 StR 478/15, NStZ 2017, 650, 651). Dies gilt umso mehr, als auch die zeitlich dem Vaginalverkehr nachfolgenden analen Vergewaltigungen auf diese Art unberücksichtigt bleiben.
3. Über die Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 26. Februar 2025 entschieden.
Cirener Gericke RiBGH Köhler ist im Urlaub und kann nicht unterschreiben.
Cirener von Häfen Werner Vorinstanz: Landgericht Hamburg, 21.06.2024 - 611 KLs 3/24