XIII ZB 29/21
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS XIII ZB 29/21 vom
26. März 2024 in der Abschiebungshaftsache Nachschlagewerk: ja BGHZ:
nein BGHR:
ja JNEU:
nein GVG § 23a Abs. 2 Nr. 6, § 170 Abs. 1; FamFG § 72 Abs. 3; ZPO § 547 Nr. 5; VwZG § 10 a) Die gemeinsame persönliche Anhörung von Betroffenen, gegen die jeweils Haft zur Sicherung der Abschiebung beantragt worden ist, verstößt gegen die für die richterliche Anhörung vorgeschriebene Nicht-Öffentlichkeit; dieser Verstoß begründet einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund, der zur Rechtswidrigkeit der auf Grund dieser Anhörung angeordneten Haft führt.
b) Die öffentliche Zustellung eines Ausweisungsbescheids ist unwirksam, wenn in dem Aushang ein unzutreffendes Datum des Bescheids angegeben wird.
BGH, Beschluss vom 26. März 2024 - XIII ZB 29/21 - LG Wuppertal AG Solingen ECLI:DE:BGH:2024:260324BXIIIZB29.21.0 Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. März 2024 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterin Dr. Picker und den Richter Dr. Kochendörfer beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal vom 29. April 2021 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Solingen vom 3. Dezember 2020 den Betroffenen im Zeitraum vom 3. bis 17. Dezember 2020 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Cloppenburg auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I. Der Betroffene, ein georgischer Staatsangehöriger, reiste spätestens Anfang 2020 nach Deutschland ein. Mit Bescheid vom 13. Mai 2020 (im Folgenden: Ausweisungsbescheid) stellte die beteiligte Behörde fest, dass der Betroffene kein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, wies ihn für die Dauer von fünf Jahren aus der Bundesrepublik aus, verhängte für diesen Zeitraum ein Einreiseund Aufenthaltsverbot, forderte ihn auf, binnen zehn Tagen nach Bekanntgabe dieses Bescheids auszureisen, und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Georgien an. Da der Aufenthalt des Betroffenen unbekannt war, veranlasste die beteiligte Behörde durch Aushang eines Schreibens vom selben Tag die öffentliche Zustellung des Ausweisungsbescheids.
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 3. Dezember 2020 Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 19. Januar 2021 angeordnet. Die nach seiner krankheitsbedingten Haftentlassung am 17. Dezember 2020 mit dem Feststellungsantrag weiterverfolgte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 29. April 2021 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. Es habe ein zulässiger Haftantrag vorgelegen. Aufgrund der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung sei die Ausreisepflicht unmittelbar vollziehbar gewesen. Die Bestandskraft sei eingetreten, weil der Ausweisungsbescheid dem Betroffenen wirksam durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt worden sei und sich der Betroffene auf Mängel des Zustellungsverfahrens nicht berufen könne. Dass der Betroffene vor dem Amtsgericht im Beisein seines Bruders angehört worden sei, stelle zwar einen Verfahrensfehler dar. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass sich dieser ursächlich auf die Durchführung der Anhörung ausgewirkt habe.
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts sind gemäß § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 5 ZPO als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, weil die Haftanordnung durch das Amtsgericht auf Grund einer Anhörung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind.
aa) Nach § 170 Abs. 1 Satz 1 GVG sind Verhandlungen, Erörterungen und Anhörungen in Familiensachen sowie in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wozu nach § 23a Abs. 2 Nr. 6 GVG auch Freiheitsentziehungssachen zählen, nicht öffentlich. Wird in einem solchen Verfahren die Öffentlichkeit zu Unrecht zugelassen, begründet dies einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund nach § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 5 ZPO (BGH, Beschluss vom 23. März 2021- XIII ZB 29/19, juris Rn. 6 mwN.).
bb) Das Amtsgericht hat bei der Anhörung des Betroffenen am 3. Dezember 2020 gegen die Vorschriften über die (Nicht-)Öffentlichkeit verstoßen, indem es den Betroffenen gemeinsam mit seinem Bruder G.K. angehört hat.
(1) Ausweislich des Anhörungsvermerks vom 3. Dezember 2020 erschienen vorgeführt als "die Betroffenen" der Betroffene und G.K., ferner eine Dolmetscherin sowie zwei Vertreter der beteiligten Behörde. Im Anhörungsvermerk wird festgestellt, "die Betroffenen" seien zum Antrag des Ausländeramts angehört worden. Es folgt die Wiedergabe der Erklärungen zunächst des Betroffenen, anschließend des G.K., sodann wird eine ergänzende Erklärung des Betroffenen festgehalten. Anschließend ist vermerkt, dass die Unterschrift "von beiden Betroffenen" verweigert wurde. Irgendeinen Hinweis darauf, dass G.K. während der Anhörung des Betroffenen den Raum verlassen hat oder umgekehrt, enthält der Vermerk nicht. Ebenso wenig wird im Anhörungsvermerk erwähnt, dass das Amtsgericht die Öffentlichkeit zugelassen oder der Betroffene sich mit seiner Anhörung im Beisein des G.K. einverstanden erklärt hat.
(2) Die im Anhörungsvermerk dokumentierten Vorgänge sind der rechtlichen Bewertung zugrunde zu legen, da diesem als öffentlicher Urkunde (§§ 415, 418 ZPO) Beweiskraft hinsichtlich der Richtigkeit der in ihm festgehaltenen Umstände und Vorgänge zukommt (BGH, Beschluss vom 23. März 2021- XIII ZB 29/19, juris Rn. 9 mwN). Aus ihnen ergibt sich zweifelsfrei, dass die Anhörung des Betroffenen im Beisein seines Bruders erfolgt ist.
(3) Die Anwesenheit von G.K. bei der Anhörung des Betroffenen stellt einen Verstoß gegen die Nicht-Öffentlichkeit der Anhörung in Freiheitsentziehungsverfahren dar. G.K. gehörte nicht zum Kreis der teilnahmeberechtigten Personen. Er war insbesondere nicht Beteiligter des hier zu beurteilenden Haftanordnungsverfahrens. Dieses wurde, wie sich auch aus den vorliegenden Gerichtsakten ergibt, allein gegen den Betroffenen geführt. Dem steht nicht entgegen, dass G.K. im Anhörungsvermerk vom 3. Dezember 2020 ebenfalls als "Betroffener" bezeichnet wird. Daraus mag allenfalls zu schließen sein, dass gegen ihn ebenfalls ein Haftanordnungsverfahren eingeleitet worden ist. Dieses würde indes ein eigenständiges Verfahren darstellen; eine Verbindung der Verfahren nach § 20 FamFG ist nicht erfolgt. Dafür, dass der Betroffene G.K. als Vertrauensperson nach § 418 Abs. 3 Nr. 2 FamFG benannt hat, was ihn zum Beteiligten machen würde, bestehen keine Anhaltspunkte.
cc) Der angefochtene Beschluss ist unmittelbar im Anschluss an die Anhörung vom 3. Dezember 2020 und damit "auf Grund" der mündlichen Verhandlung, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt wurden, im Sinne von § 547 Nr. 5 ZPO in Verbindung mit § 72 Abs. 3 FamFG ergangen. Auf eine weitergehende Ursächlichkeit dieses Verfahrensfehlers für die angefochtene Entscheidung kommt es entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts nicht an, weil er einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund begründet.
b) Rechtsfehlerhaft hat das Beschwerdegericht zudem angenommen, im Zeitpunkt der Haftanordnung durch das Amtsgericht habe eine bestandskräftige Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG vorgelegen, da dem Betroffenen der Ausweisungsbescheid der beteiligten Behörde vom 13. Mai 2020 wirksam öffentlich zugestellt worden sei und sich dieser auf Zustellungsmängel nicht berufen könne.
aa) In dem zum Zweck der öffentlichen Zustellung des Ausweisungsbescheids ausgehängten Schreiben der beteiligten Behörde vom 13. Mai 2020, das als Aushang und Öffentliche Bekanntmachung bezeichnet war, wurde mitgeteilt, gegen den Betroffenen sei "mit Schreiben vom 27.02.2020" eine Ausweisung mit Abschiebungsandrohung erlassen worden. Dieses Schreiben werde hiermit gemäß § 10 Abs. 1 und 2 VwZG öffentlich zugestellt, da der Aufenthaltsort der betroffenen Person unbekannt beziehungsweise die anderweitige Zustellung wegen ausländischer Anschrift nicht möglich sei oder nicht erfolgversprechend erscheine.
bb) Damit ist eine wirksame öffentliche Zustellung nicht erfolgt.
(1) Gemäß § 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Verwaltungszustellungsgesetzes finden auf das Zustellungsverfahren der Behörden des Landes Niedersachsen die Vorschriften der §§ 2 bis 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 12. August 2005 (BGBl. I S. 2354) in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. Nach § 10 VwZG in der am 13. Mai 2020 geltenden Fassung erfolgt die öffentliche Zustellung durch Bekanntmachung einer Benachrichtigung an der Stelle, die von der Behörde hierfür allgemein bestimmt ist, oder durch Veröffentlichung einer Benachrichtigung im Bundesanzeiger, und muss die Benachrichtigung unter anderem das Datum und das Aktenzeichen des Dokuments erkennen lassen. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall nicht erfüllt, weil in der Benachrichtigung ein unrichtiges Datum des Ausweisungsbescheids - der 27. Februar 2020 statt dem 13. Mai 2020 - angegeben war. Damit war der Aushang nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben ordnungsgemäß vorgenommen.
(2) Dieser Mangel führt zur Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Ausweisungsbescheids vom 13. Mai 2020 (vgl. Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., § 10 VwZG Rn. 12; Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG, 12. Aufl., § 10 VwZG Rn. 19; Danker in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl., § 10 VwZG Rn. 7; zu § 186 Abs. 2 ZPO: KG, NJW 2012, 245 Rn. 8; OLG Dresden, StraFo 2006, 375 [juris Rn. 12]). Da das Beschwerdegericht nicht festgestellt hat, dass der Ausweisungsbescheid dem Betroffenen nach seiner Festnahme übergeben wurde, und dafür auch keine Anhaltspunkte bestehen, kommt eine Heilung des Zustellungsmangels, die durch den tatsächlichen Zugang des Dokuments hätte erfolgen können (vgl. Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, aaO, § 10 VwZG Rn. 12; Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, aaO § 10 VwZG Rn. 19; Danker in Fehling/Kastner/Störmer, aaO, § 10 VwZG Rn. 7), nicht in Betracht.
cc) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts ist es dem Betroffenen auch nicht verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Ausweisungsbescheids zu berufen. Zwar hat der Bundesgerichtshof im Hinblick auf öffentliche Zustellungen nach den - hier nicht anwendbaren - §§ 185 ff. ZPO entschieden, dass es sich im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich darstellen kann, wenn sich der Zustellungsadressat auf die Unwirksamkeit einer öffentlichen Zustellung beruft (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2001 - VIII ZR 282/00, BGHZ 149, 311 [juris Rn. 36]; Beschluss vom 28. April 2008 - II ZR 61/07, MDR
2008, 995 Rn. 2). Von einem solchen Rechtsmissbrauch ist hier indes nicht auszugehen. Dass der Betroffene, wie das Beschwerdegericht meint, zielgerichtet versucht hat, die Zustellung des Ausweisungsbescheids zu verhindern und mit dieser sicher rechnen musste, kann aus den getroffenen Feststellungen nicht gefolgert werden. Weder der Umstand, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bereits geraume Zeit unberechtigt im Bundesgebiet aufhielt, noch, dass er illegal untergetaucht war und mehrfach gegen Rechtsvorschriften verstoßen hatte, was zu Fahndungsausschreibungen zweier Staatsanwaltschaften geführt hatte, vermögen die Annahme zu stützen, dass er gerade die Zustellung eines Ausweisungsbescheids vereiteln wollte. Sein unerlaubter Aufenthalt bildet den Grund für seine Ausreisepflicht, sein Untertauchen war bei lebensnaher Betrachtung dadurch bedingt, dass er sich dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entziehen wollte. Zudem hatte der Betroffene keine Kenntnis vom Tätigwerden der beteiligten Behörde und einer bevorstehenden Ausweisungsverfügung und verfügte während der gesamten Dauer seines Aufenthalts in Deutschland über keinen festen Wohnsitz.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts ergibt sich aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff Picker Roloff Tolkmitt Kochendörfer Vorinstanzen: AG Solingen, Entscheidung vom 03.12.2020 - 8 XIV(B) 26/20 LG Wuppertal, Entscheidung vom 29.04.2021 - 9 T 7/21 -