VIa ZR 942/23
BUNDESGERICHTSHOF VIa ZR 942/23 BESCHLUSS vom 11. März 2025 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2025:110325BVIAZR942.23.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. März 2025 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterin Dr. Brenneisen sowie die Richter Messing, Dr. Katzenstein und Dr. F. Schmidt beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit Sitz in Kassel vom 18. August 2023 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Gegenstandswert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 50.000 € festgesetzt.
Gründe: I.
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger erwarb im Februar 2020 von dritter Seite ein Wohnmobil Hymer Van 374 mit einem Dieselmotor Multijet 150 2,3 l (Schadstoffklasse Euro 6). Es verfügt nach dem Vorbringen des Klägers unter anderem über ein Thermofenster.
Der Kläger hat zuletzt Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung zuzüglich ihm entstandener Aufwendungen nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten, die Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen sowie die Freistellung von weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, schließlich die Feststellung der Teilerledigung des Rechtsstreits im Hinblick auf zwischenzeitlich aufgelaufene Nutzungsentschädigung begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde. Nach Zulassung der Revision möchte er seine Berufungsanträge weiterverfolgen.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit hier von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Dem Kläger stünden keine deliktischen Ansprüche zu. Er habe bereits nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass sein Fahrzeug über eine unzulässige Abschalteinrichtung verfüge. Er habe insbesondere keinen belastbaren Vortrag dazu gehalten, dass in seinem Wohnmobil ein Thermofenster verwendet werde. Für sein Vorbringen, die Abgasrückführung in seinem Fahrzeug funktioniere ausschließlich in einem Temperaturkorridor von 20 bis 30°C, wohingegen außerhalb dieses Korridors die Wirksamkeit sinke, fehle ein greifbarer Anhaltspunkt. Weder sei vorgetragen, welche Höchstgrenze im Einzelnen überschritten werden solle, noch, welcher Umstand hierfür Anhalt biete. Aus von dem Kläger herangezogenen Protokollen und Gutachten ergebe sich nichts für ihn Günstiges, im Übrigen hätten die Behörden unstreitig keine Maßnahmen hinsichtlich des Fahrzeugs des Klägers ergriffen.
2. Durch diese Beurteilung hat das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
a) Das Gebot rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Dabei gewährt Art. 103 Abs. 1 GG zwar keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Vortrags verstößt jedoch gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet, weil sie die einschlägigen prozessrechtlichen Vorschriften offenkundig missachtet, und dadurch den Prozessvortrag des Klägers übergeht (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Mai 2017 - VI ZR 85/16, NJW 2017, 2623 Rn. 7; Beschluss vom 5. März 2019 - VIII ZR 190/18, NJW 2019, 1950 Rn. 10 f.).
Hiervon ist auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei darauf beruht, dass das Gericht die Vorschrift des § 138 Abs. 3 ZPO zu den Folgen der Erklärungslast der Parteien gem. § 138 Abs. 2 ZPO in offenkundig fehlerhafter Weise gehandhabt hat. Da nach § 138 Abs. 3 ZPO Tatsachen, die nicht ausdrücklich oder konkludent bestritten werden, vom Gericht als zugestanden anzusehen und der Entscheidung ohne Weiteres zugrunde zu legen sind, kann die offenkundig fehlerhafte Anwendung dieser Bestimmung
- ähnlich wie die von Präklusionsvorschriften - dazu führen, dass entscheidungserheblicher Sachvortrag der Partei nicht in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung berücksichtigt wird (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2022 - VIII ZR 285/21, NJW-RR 2022, 1144 Rn. 13).
b) Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Gehörsverletzung anzulasten. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt, hat es in offensichtlich fehlerhafter Anwendung der Regelung des § 138 Abs. 3 ZPO und unter Fehlinterpretation des Vorbringens der Beklagten angenommen, diese habe das Vorbringen des Klägers zum Vorhandensein eines Thermofensters in seinem Fahrzeug umfassend in Abrede gestellt.
aa) Der Kläger hat vorgetragen, die Wirkung des in seinem Fahrzeug verbauten Abgasrückführungssystems werde bereits bei Temperaturen von weniger als 17°C reduziert sowie bei Temperaturen unter 5° und über 33°C abgeschaltet.
Die Beklagte hat vorgebracht, das Fahrzeug des Klägers enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und halte die einschlägigen Grenzwerte ein. Der Kläger behaupte lediglich pauschal und nicht substantiiert Manipulationen, wozu sich die Beklagte einer Stellungnahme enthalte. Das Fahrzeug des Klägers enthalte keine Software, die feststelle, ob es sich auf einem Prüfstand befinde. Die Abgassteuerung in dem Fahrzeug des Klägers arbeite auf dem Prüfstand nicht anders als auf der Straße. Kein Hersteller von Dieselmotoren könne auf eine flexible Modulation der Abgasrückführungsrate verzichten, vielmehr sei es technisch zwingend, die Verrußung und Verkokung der Motorkomponenten durch eine Modulation der zusätzlich rußfördernden hohen Abgasrückführungsrate zu mildern. Doch sei die Behauptung unzutreffend, beim Fahrzeug des Klägers werde die Abgasrückführungsrate nach einem fest definierten Zeitraum beziehungsweise einer bestimmten Anzahl von Zyklen (NEFZ) auf null reduziert.
bb) Dieses Vorbringen lässt nicht hinreichend erkennen, dass die Beklagte das Vorhandensein des vom Kläger angeführten Thermofensters in Abrede gestellt hätte. Sie hat sich im Wesentlichen auf die Erklärung beschränkt, die einschlägigen Behauptungen des Klägers seien unsubstantiiert sowie vorgebracht, es liege insofern weder eine unzulässige Abschalteinrichtung noch gar ein Fall der Sittenwidrigkeit vor, zumal auf eine flexible Modulation der Abgasrückführungsrate nicht verzichtet werden könne. Dies genügte jedoch nicht für ein Bestreiten des Einbaus des von dem Kläger vorgetragenen Thermofensters in sein Fahrzeug. Mit ihrem Vorbringen hatte die Beklagte vielmehr lediglich ihre rechtliche Sicht in Bezug auf die Zulässigkeit beziehungsweise Sittenwidrigkeit eines Thermofensters zum Ausdruck gebracht. Diese dürfte von dem ausweislich späterer höchstrichterlicher Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022 - C-128/20, NJW 2022, 2605 Rn. 40, 42, 44 und 47; BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 14 f. und 50 f.) unzutreffenden Rechtsstandpunkt getragen gewesen sein, für die Annahme einer Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 sei allein die Funktionsweise des Fahrzeugs und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte unter den Bedingungen des Prüfverfahrens von Bedeutung, wie sie durch die EG-Typgenehmigung bescheinigt werde, und für die die Beklagte zudem darauf hinwies, auf eine flexible Modulation der Abgasrückführungsrate könne nicht verzichtet werden. Dass sie den Einbau des von dem Kläger behaupteten Thermofensters in Abrede stelle, lässt sich ihrem Vorbringen hingegen nicht nachvollziehbar entnehmen. Ein solches Bestreiten ergibt sich auch nicht daraus, dass die Beklagte die Ausführungen des Klägers unter anderem zum Thermofenster als unsubstantiiert beanstandet hat. Auch damit hat sie lediglich ihre rechtliche Beurteilung des gegnerischen Prozessvorbringens zum Ausdruck gebracht. Unter diesen Umständen aber hätte das Berufungsgericht jedenfalls nicht ohne eine Rückfrage bei der Beklagten (§ 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO) annehmen dürfen, der Einbau des von dem Kläger behaupteten Thermofensters in seinem Fahrzeug sei von der Beklagten bestritten (vgl. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 23. April 2024 - VIa ZR 1346/22, juris Rn. 12).
3. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass die nach allem gebotene Nachfrage bei der Beklagten ergeben hätte, dass diese den tatsächlichen Einbau des von dem Kläger behaupteten Thermofensters in seinem Fahrzeug nicht in Abrede stelle.
Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht in diesem Fall einen Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung bejaht hätte (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245).
4. Die von der Nichtzulassungsbeschwerde weiter geltend gemachten Verletzungen von Verfahrensgrundrechten hat der Senat geprüft, aber für nicht durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird insoweit gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.
C. Fischer Brenneisen Messing Katzenstein F. Schmidt Vorinstanzen: LG Kassel, Entscheidung vom 13.12.2021 - 7 O 1078/21 OLG Frankfurt in Kassel, Entscheidung vom 18.08.2023 - 25 U 410/21 -