XIII ZB 140/19
BUNDESGERICHTSHOF XIII ZB 140/19 BESCHLUSS vom 21. September 2021 in der Abschiebungshaftsache ECLI:DE:BGH:2021:210921BXIIIZB140.19.0 Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. September 2021 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, den Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt und die Richterin Dr. Rombach beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtmittels festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bremen vom 30. Oktober 2019 und der Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 22. November 2019 den Betroffenen in dem Zeitraum vom 9. bis zum 23. November 2019 in seinen Rechten verletzt haben.
Von den Gerichtskosten in allen Instanzen trägt der Betroffene zwei Fünftel. Weitere Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Hansestadt Bremen trägt drei Fünftel der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen; im Übrigen trägt sie dieser selbst.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I. Der Betroffene reiste erstmals 1986 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Deutschland ein. Ein maßgeblich auf den Umstand, als Kurde im Libanon der Verfolgung ausgesetzt zu sein, gestützter Asylantrag wurde von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 2. April 1987 abgelehnt. Rechtsbehelfe gegen diesen Bescheid blieben erfolglos. Der Betroffene blieb ebenso wie seine Eltern anschließend gleichwohl in Deutschland, da seine Abschiebung wegen ungeklärter Staatsangehörigkeit nicht durchgeführt werden konnte. Mit Bescheid vom 26. Februar 1998 wurde er wegen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren wegen versuchten schweren Raubs durch das Stadtamt Bremen ausgewiesen. Eine Abschiebung erfolgte aber nicht. Mit Bescheid vom 16. Januar 2006 wies die nunmehr zuständige Stadt Oldenburg den Betroffenen wegen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten erneut unter Androhung der Abschiebung aus. Auch diese Ausweisung konnte nach der Entlassung des Betroffenen aus der Haft zunächst nicht vollzogen werden. Am 28. Mai 2014 wurde der Betroffene wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Nach der Entlassung aus dieser Haft im März 2019 erteilten die libanesischen Behörden dem Betroffenen Passersatzpapiere zur Durchführung seiner Abschiebung in den Libanon. Mit Bescheid vom 10. Juli 2019 befristete die beteiligte Behörde das durch die Ausweisung des Betroffenen vom 16. Januar 2006 begründete unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von sieben Jahren von der Ausreise (Abschiebung) an und schob den Betroffenen in den Libanon ab. Der Bescheid wurde dem Betroffenen zu Händen seiner Verfahrensbevollmächtigten am 11. Juli 2019 zugestellt. Am gleichen Tage stimmte die Stadt Oldenburg der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu. Gegen diesen Befristungsbescheid erhob der Betroffene Klage, über die noch nicht entschieden ist.
Ende Oktober 2019 - nach seinen Angaben am 25. Oktober 2019 - reiste der Betroffene erneut nach Deutschland ein. Er erstattete am 29. Oktober 2019 bei der Staatsanwaltschaft Bremen eine Selbstanzeige wegen seiner Einreise nach Deutschland. Am 30. Oktober 2019 begab er sich in Begleitung seines Verfahrensbevollmächtigten zur Bremer Außenstelle des Bundesamts, um dort einen Asylantrag zu stellen. Dabei wurde er von der Polizei festgenommen; die Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen reichten den Asylantrag anschlie- ßend schriftlich ein. An demselben Tag erteilte die beteiligte Behörde dem Betroffenen einen Bescheid, indem sie dessen sofortige Ausreisepflicht feststellte, ihm die Abschiebung ohne Einräumung einer Verlassensfrist androhte und die sofortige Vollziehung dieser Androhung - und damit die Vollziehung der festgestellten gesetzlichen Ausreisepflicht - anordnete. Dieser Bescheid wurde dem Betroffenen persönlich und zu Händen seiner Verfahrensbevollmächtigten ausgehändigt; der Betroffene erhob dagegen am 6. November 2019 Klage.
Ebenfalls am 30. Oktober 2019 hat die beteiligte Behörde bei dem Amtsgericht gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung in den Libanon bis zum Ablauf des 2. Dezember 2019 erwirkt. Am 8. November 2019 wies das Bundesamt den auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes begrenzten Asylantrag des Betroffenen als offensichtlich unbegründet zurück. Am 15. November 2019 erhob der Betroffene hiergegen Klage und beantragte gleichzeitig die Herstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage; diesen Antrag wies das Verwaltungsgericht am 22. November 2019 zurück. Mit Beschluss von demselben Tage hat das Landgericht die Beschwerde des Betroffenen gegen die Anordnung von Sicherungshaft zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde möchte der Betroffene nach seiner Abschiebung in den Libanon am 23. November 2019 die Feststellung erreichen, dass die Haft rechtswidrig war.
II. Das mit einem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG zulässige Rechtsmittel hat teilweise Erfolg.
1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts ist die Beschwerde des Betroffenen gegen die Anordnung von Sicherungshaft unbegründet. Der Anordnung des Amtsgerichts habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Die Haftanordnung sei auch in der Sache rechtmäßig. Der Betroffene sei unter Verstoß gegen das bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot und damit unerlaubt nach Deutschland eingereist. Das Verbot sei durch den Bescheid der beteiligten Behörde vom 10. Juli 2019 befristet worden. Diese Befristung sei ihm jedenfalls bei der hier zu beurteilenden unerlaubten Einreise - nach der Darstellung des Betroffenen am 25. Oktober 2019 - zugestellt und bekannt geworden. Er habe nämlich am 22. Juli 2019 bei dem Verwaltungsgericht Klage gegen diese Befristung erhoben. Aufgrund der unerlaubten Einreise sei er vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Daran habe der Asylantrag, den der Betroffene am 30. Oktober 2019 gestellt habe, nichts geändert. Bei diesem Asylantrag habe es sich um einen Folgeantrag nach § 71 AsylG gehandelt. Ein solcher Antrag stehe der Anordnung von Sicherungshaft nicht entgegen, sofern nicht ein weiteres Verfahren eingeleitet werde. Dafür habe aber bei Haftanordnung nichts gesprochen. Auch der Umstand, dass das Bundesamt über den Antrag mit Bescheid vom 8. November 2019 doch entschieden habe, ändere an der Ausreisepflicht des Betroffenen nichts. Der Asylantrag bewirke nämlich nach § 67 Abs. 1 Nr. 4 AsylG keine Aufenthaltsgestattung. Der Betroffene habe zwar die Herstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes beantragt. Hierüber habe das Verwaltungsgericht aber nach den eingeholten Informationen bisher nicht entschieden. Daraus folge ein Vollstreckungsverbot nach § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG, nicht aber, dass die Sicherungshaft gegen den Betroffenen aufgehoben werden müsse. Die Aufrechterhaltung der Sicherungshaft stehe auch nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Die Haftgründe der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG und der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG mit dem tatsächlichen Anhaltspunkt hierfür nach § 62 Abs. 3a Nr. 4 AufenthG (Verstoß gegen ein Einreiseverbot) hätten vorgelegen und lägen weiterhin vor. Mildere Mittel seien nicht ersichtlich. Die beantragte und angeordnete Haftdauer von etwa zwei Monaten sei die kürzestmögliche.
2. Diese Erwägungen halten rechtsbeschwerderechtlicher Prüfung nur teilweise stand.
a) Der Anordnung und Aufrechterhaltung von Sicherungshaft stand entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht entgegen, dass es an einem zulässigen Haftantrag fehlte. Der Haftantrag der beteiligten Behörde war vielmehr zulässig.
aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8, vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8, und vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7).
bb) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag gerecht. Dies gilt auch für die Angaben der beteiligten Behörde zur erforderlichen Dauer der beantragten Haft von zwei Monaten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erschließt sich grundsätzlich ohne Weiteres, dass der organisatorische Aufwand für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung sechs Wochen in Anspruch nimmt, da erst die für die Begleitung in Betracht kommenden Personen ermittelt und innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeitfenster die Flüge für den Betroffenen und die Begleitpersonen gebucht werden müssen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11, vom 10. November 2020 - XIII ZB 58/19, juris Rn. 9, 25, und vom 20. April 2021 - XIII ZB 85/20, juris Rn. 8). Dies gilt auch hier und wird von der Rechtsbeschwerde nicht in Abrede gestellt. Soweit sie meint, die beteiligte Behörde habe näher ausführen müssen, aus welchen Gründen sie das erforderliche neue Passersatzpapier für den Betroffenen innerhalb der beantragten "nur" zwei Monate glaube erlangen zu können, nachdem die libanesischen Behörden sich jahrelang nicht imstande gesehen hätten, für den Betroffenen ein Passersatzpapier auszustellen, trifft dies nicht zu. Die beteiligte Behörde hat ihre Erwartung nachvollziehbar damit erklärt, dass die libanesischen Behörden dem Betroffenen wenige Monate zuvor ein Passersatzpapier erteilt hätten. Dies erlaubte dem Gericht konkrete Nachfragen und ist deshalb ausreichend.
b) Die Anordnung der Sicherungshaft durch das Amtsgericht ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden.
aa) Rechtsfehlerfrei geht das Amtsgericht von der Ausreisepflicht des Betroffenen aus.
(1) Die Ausreisepflicht des Betroffenen ergab sich bei Anordnung der Haft durch das Amtsgericht nicht aus dem Bescheid der beteiligten Behörde vom 30. Oktober 2019, sondern aus dem Gesetz. In der Entscheidungsformel hält der Bescheid zwar fest, dass der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig sei. Inhalt und Zweck des Bescheids ist aber, wie sich aus der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit und der Begründung ergibt, nicht die klarstellende Feststellung der gesetzlichen Ausreiseverpflichtung des Betroffenen, sondern der Ausspruch der erforderlichen Abschiebungsandrohung. Maßgeblich für das Bestehen der Ausreisepflicht ist deshalb § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.
(2) Danach ist vollziehbar ausreisepflichtig, wer unerlaubt eingereist ist. Eine unerlaubte Einreise liegt nach § 14 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG unter anderem dann vor, wenn der Betroffene einreist, obwohl er nach § 11 Abs. 1, 6 oder 7 AufenthG nicht einreisen darf und auch nicht über eine Ausnahmeerlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG verfügt. So lag es bei Anordnung der Haft am 30. Oktober 2019 hier.
(a) Aufgrund seiner Ausweisung vom 16. Januar 2006 bestand gegen den Betroffenen nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG in der bis zum 31. Juli 2015 geltenden Fassung ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
(b) Auf ein solches altrechtliches Einreise- und Aufenthaltsverbot darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung zwar nur gestützt werden, wenn im Zuge der angestrebten zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung über die erforderliche Befristung nachträglich entschieden worden ist, die Einreise des Betroffenen danach (immer noch) eine unerlaubte war und ein Zeitraum verstrichen ist, der es dem Betroffenen ermöglicht, die von Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG eingeräumten Rechtsbehelfe noch im Bundesgebiet zu ergreifen (BGH, Beschlüsse vom 8. Januar 2014 - V ZB 137/12, NVwZ 2014, 1111 Rn. 8,13, und vom 22. Oktober 2014 - V ZB 64/14, InfAuslR 2015, 60 Rn. 12). Diese Voraussetzungen lagen hier aber vor.
Die beteiligte Behörde hat das ursprünglich unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot aus dem Bescheid vom 16. Januar 2006 mit Bescheid vom 10. Juli 2019 auf sieben Jahre befristet. Dieser Bescheid ist dem Betroffenen am 11. Juli 2019 zugestellt worden. Über die gegen den Bescheid erhobene verwaltungsgerichtliche Klage war zwar bei Anordnung der Sicherungshaft noch nicht entschieden. Darauf kommt es im Haftanordnungsverfahren aber nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob die zuständige Behörde ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen erfüllt und das unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot entsprechend den Erfordernissen von Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch für Altfälle gilt (Urteil vom 19. September 2013 - C-297/12, NVwZ 2014, 361 Rn. 41 - Filev und Osmani), befristet hat. Eine tatsächlich erfolgte Befristung ist für die Haftanordnung zugrunde zu legen, sofern sie nicht in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgehoben wird.
(c) An dem Vorliegen einer wirksamen Befristung ändert es nichts, dass das nach § 72 Abs. 2 Satz 1 AufenthG - auch in Altfällen (BVerwGE 142, 195 Rn. 16) - erforderliche Einvernehmen der Stadt Oldenburg, die das ursprüngliche Einreise- und Aufenthaltsverbot durch ihre Ausweisungsverfügung ausgelöst hatte, erst am 11. Juli 2019 erteilt worden ist. Sofern das Einvernehmen bei Zustellung des Bescheids noch nicht vorgelegen haben sollte, hätte dies zwar zur Rechtswidrigkeit der Befristungsentscheidung geführt, den Bestand des Bescheides aber nach § 44 Abs. 3 Nr. 4 BremVwVfG nicht infrage gestellt.
(3) Zutreffend ist das Amtsgericht auch vom Fortbestand der Ausreisepflicht des Betroffenen ausgegangen.
(a) Allerdings lässt eine zwischenzeitliche Aufenthaltsgestattung nicht nur die Ursächlichkeit der unerlaubten Einreise für die vollziehbare Ausreisepflicht und damit den Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entfallen (BGH, Beschlüsse vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10, InfAuslR 2011, 71 Rn. 19, vom 9. November 2017 - V ZB 15/17, juris Rn. 4, vom 21. August 2019 - V ZB 138/18, juris Rn. 5, und vom 24. August 2020 - XIII ZB 83/19, InfAuslR 2021, 122 Rn. 28). Vielmehr entfällt mit der zwischenzeitlichen Aufenthaltsgestattung etwa durch die Stellung eines Asylantrags - ähnlich wie bei der Zurückweisung eines Asylantrags als "einfach" unbegründet nach § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylG (dazu BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 115/19, NVwZ-RR 2021, 419 Rn. 11) - die Ausreisepflicht aufgrund unerlaubter Einreise. Der Betroffene ist dann gegebenenfalls aufgrund der Zurückweisung des Asylantrags ausreisepflichtig (BGH, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 96/12, juris Rn. 17). Dieser Fall läge hier vor, wenn der Asylantrag des Betroffenen vom 30. Oktober 2019 als Erstantrag und nicht, wie von der beteiligten Behörde angenommen, als Folgeantrag im Sinne von § 71 Abs. 1 AsylG zu qualifizieren wäre. Er löste dann eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG aus, während er als Folgeantrag nach § 71 Abs. 8 AsylG der Anordnung von Sicherungshaft nicht entgegenstand.
(b) Diese Rechtsfrage bedurfte bei der Haftanordnung aber keiner Entscheidung. Die Haftgerichte haben nach der Aufgabenverteilung zwischen den Haftgerichten und den Verwaltungsgerichten vorbehaltlich einer Aufhebung durch die Verwaltungsgerichte von der Rechtmäßigkeit der von den Ausländerbehörden erlassenen Verwaltungsakte auszugehen (BGH, Beschlüsse vom
12. April 2018 - V ZB 164/16, NVwZ 2018, 1583 Rn. 11, vom 21. August 2019 - V ZB 174/17, juris Rn. 8, vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 81/19, juris Rn. 12 und 14, und vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 133/19, NVwZ 2021, 822 Rn. 8). Sie haben ihrer Prüfung auch andere Entscheidungen der Ausländerbehörden, etwa eine Zurückweisung durch Überstellung in den Erstaufnahmestaat oder durch Abschiebung in das Heimatland durchzuführen (BGH, Beschluss vom 12. April 2018 - V ZB 164/16, NVwZ 2018, 1583 Rn. 13), und auch die Rechtsauffassung der beteiligten Behörde zugrunde zu legen, wenn der äußere Tatbestand, an den dieser Rechtsstandpunkt anknüpft, festgestellt ist (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 20/19, NVwZ 2021, 342 Rn. 8). Ebenso haben sie nicht zu prüfen, ob die Behörde das richtige Verfahren gewählt hat (BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - V ZB 80/17, NVwZ-RR 2019, 662 Rn. 7), ob sie das Verfahren zu Recht betreibt (BGH, Beschlüsse vom 7. April 2020 - XIII ZB 53/19, InfAuslR 2020, 283 Rn. 12 und vom 20. Mai 2020 - XIII ZB 71/19, juris Rn. 7) oder ob ein Antrag als Asylantrag zu qualifizieren ist (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/20, NVwZ-RR 2021, 237 [Ls] = juris Rn. 12). Das Amtsgericht hatte deshalb im vorliegenden Fall bei seiner Prüfung davon auszugehen, dass der Asylantrag des Betroffenen, wie von der beteiligten Behörde zugrunde gelegt, ein Folgeantrag im Sinne von § 71 Abs. 1 AsylG war.
(c) Auf dieser Grundlage stand der Asylantrag des Betroffenen vom 30. Oktober 2019 der Anordnung von Sicherungshaft nicht entgegen. Dies galt nach § 71 Abs. 8 AsylG zwar nur, sofern und solange das Bundesamt das Asylverfahren nicht wieder aufgriff. Bei Erlass der Haftanordnung durch das Amtsgericht war das Bundesamt aber noch nicht in eine Prüfung des Asylantrags vom 30. Oktober 2019 eingetreten, und es war auch nicht abzusehen, ob und gegebenenfalls wann es in eine solche Prüfung eintreten würde. Daran ändert der Umstand nichts, dass mit dem ersten Asylbescheid vom 2. April 1987 jedenfalls noch nicht über den subsidiären Schutz und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hatte entschieden werden können, weil eine solche Entscheidung erst zum 1. Januar 2013 ermöglicht wurde (vgl. BVerwG, NVwZ-RR 2015, 634 Rn. 23). Mit diesem ausländerrechtlichen Gesichtspunkt hatte sich das Amtsgericht ebenso wenig zu befassen wie mit der Frage der Qualifikation des Antrags als Erst- oder Folgeantrag. Da die Abschiebung des Betroffenen erst noch vorbereitet werden musste, musste das Amtsgericht auch nicht von Amts wegen feststellen, ob die für die tatsächliche Durchführung der Abschiebung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG erforderliche Erklärung des Bundesamts, dass die Voraussetzungen für ein Aufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, abgegeben worden war (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 24/19, juris Rn. 14).
bb) Danach ist auch die weitere Annahme des Amtsgerichts, die Haftgründe der unerlaubten Einreise (§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) und der Fluchtgefahr wegen Verletzung eines Einreiseverbots (§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 4 AufenthG) lägen vor, nicht zu beanstanden. Von einer näheren Begründung wird nach § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
c) Die angeordnete Haft durfte aber nach dem 8. November 2019 jedenfalls nicht ohne erneute persönliche Anhörung des Betroffenen aufrechterhalten werden. Es ist deshalb nach § 62 FamFG festzustellen, dass sie vom 9. November 2019 bis zur Abschiebung des Betroffenen am 23. November 2019 rechtswidrig war.
aa) Das Beschwerdegericht kann von der nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG an sich vorgeschriebenen und vom Gesetzgeber wegen der Bedeutung des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht für nicht begründungsbedürftig gehaltenen (BT-Drucks. II/169 S. 10) erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen (vgl. § 420 FamFG) nach Satz 2 der genannten Vorschrift - auch bei der gebotenen (Entwurfsbegründung in BT-Drucks. 16/6308 S. 207 f.) Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (dazu: EGMR NJW 1992, 1813, 1814 Rn. 36 f. - Helmers gegen Schweden) - absehen, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (BGH, Beschlüsse, vom 11. Mai 1995
- V ZB 13/95, NJW 1995, 2226, insoweit in BGHZ 129, 383 nicht abgedruckt, vom 28. Januar 2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163 Rn. 7, und vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 13). Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht im Ermessen des Beschwerdegerichts (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - V ZB 67/15, InfAuslR 2016, 54 Rn. 4). Die erneute persönliche Anhörung des Betroffenen ist aber zwingend, wenn das Beschwerdevorbringen eine weitere Sachaufklärung erwarten lässt (BGH, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 7), sich nach Erlass der Haftanordnung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben haben oder sich das Beschwerdegericht auf Tatsachen stützen will, zu denen der Betroffene noch nicht gehört worden ist (BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 3/10, NVwZ 2011, 317 Rn. 8 f. [Freiheitsentziehungsrecht], vom 23. November 2016 - XII ZB 458/16, NJW 2017, 668 Rn. 7 und vom 23. Juni 2021 - XII ZB 42/21, MDR 2021, 1023 Rn. 5 [beide Betreuungsrecht]). Eine solche neue Tatsache ist das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 5, 8 AsylG, § 51 Abs. 5 VwVfG (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2012 - V ZB 274/11, InfAuslR 2013, 77 Rn. 11).
bb) Danach durfte die Haftanordnung nach Einlegung der Beschwerde am 8. November 2019 nicht ohne erneute persönliche Anhörung des Betroffenen aufrechterhalten werden. Denn an demselben Tag hat sich der Sachverhalt mit der Ablehnung des Asylantrags des Betroffenen vom 30. Oktober 2019 durch den Bescheid des Bundesamts vom 8. November 2019 entscheidungserheblich verändert.
Das Bundesamt hat sich nach der Anhörung des Betroffenen am 6. November 2019 entschlossen, sich mit dessen Asylantrag vom 30. Oktober 2019 zu befassen. Mit dieser Entschließung war dem Betroffenen der Aufenthalt im Bundesgebiet kraft Gesetzes gestattet.
Dies ergibt sich unmittelbar aus § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG, wenn man den auf die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes beschränkten Antrag als Erstantrag ansieht. Nichts anderes ergibt sich,
wenn man, wie im Haftanordnungsverfahren nach dem oben Ausgeführten (Rn. 20) grundsätzlich geboten, den Standpunkt der beteiligten Behörde zugrunde legt und den Antrag als Folgeantrag nach § 71 Abs. 1 AsylG qualifiziert. Denn in diesem Fall folgt das gesetzliche Aufenthaltsrecht des Betroffenen aus § 71 Abs. 8, § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG.
Diese Aufenthaltsgestattung ist zwar nach § 67 Abs. 1 Nr. 4 AsylG mit dem Erlass des Bescheids vom 8. November 2019 sogleich wieder entfallen, da dieser Bescheid nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbar war. Dies bedeutet aber nicht, dass keine erhebliche Änderung der Grundlagen der Haftanordnung eingetreten wäre. Sie war nämlich nunmehr - aus der Sicht der beteiligten Behörde nach Wiederaufgreifen des Verfahrens - am Maßstab der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. EU Nr. L 180 S. 60) zu messen. Nach deren Art. 9 Abs. 2 darf das Bleiberecht des Asylantragstellers nach Absatz 1 der Vorschrift nur bei Folgeanträgen und nur unter den Voraussetzungen von deren Art. 41 beschränkt werden, nämlich nur, wenn der Folgeantrag - wie hier jedoch geschehen - nicht erneut geprüft wird. Damit stellte sich im Beschwerdeverfahren - anders als bisher - die Frage, ob der Betroffene noch in Sicherungshaft gehalten werden durfte oder mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bis zu der - vom Verwaltungsgericht am 22. November 2019 getroffenen - Entscheidung über seinen Eilantrag aus der Haft entlassen werden musste (EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 - C-181/16 - Gnandi, NVwZ 2018, 1625 Rn. 61 ff. und Beschluss vom 5. Juli 2018 - C-269/18, ECLI:EU:C:2018:544 Rn. 50 f. - PPU), unter welchen tatsächlichen Voraussetzungen eine weitere Sicherungshaft gegebenenfalls möglich war und ob diese tatsächlichen Voraussetzungen vorlagen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Meier-Beck Tolkmitt Kirchhoff Rombach Roloff Vorinstanzen: AG Bremen, Entscheidung vom 30.10.2019 - 92b XIV 354/19 LG Bremen, Entscheidung vom 22.11.2019 - 10 T 515/19 -