IX ZR 100/23
BUNDESGERICHTSHOF IX ZR 100/23 BESCHLUSS vom 13. Juni 2024 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2024:130624BIXZR100.23.0 Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Schoppmeyer, die Richter Röhl, Dr. Schultz, Weinland und Kunnes am 13. Juni 2024 beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird die Revision gegen den die Berufung zurückweisenden Beschluss des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 8. Mai 2023, berichtigt durch Beschluss vom 11. Mai 2023, zugelassen.
Auf die Revision des Klägers wird der vorbezeichnete Beschluss aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 63.294,51 € festgesetzt.
Gründe:
I. 1 Der Kläger ist der Verwalter in dem auf Fremdanträge vom 6. April und
13. Mai 2017 mit Beschluss vom 1. Juli 2017 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der B. AG (nachfolgend: Schuldnerin). Die Schuldnerin war mit der Herstellung von Bücherschränken für den öffentlichen Raum befasst. Zwischen der Schuldnerin und der Beklagten, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, bestand ein Kooperationsvertrag. Darin übertrug die Schuldnerin der Beklagten die Herstellung und Auslieferung der Bücherschränke. Der Geschäftsführer der Beklagten war mit 10 % an der Schuldnerin beteiligt und zeitweise auch Mitglied ihres Vorstands.
Unter dem Gesichtspunkt der Vorsatzanfechtung nimmt der Kläger die Beklagte auf Rückgewähr von sechs Einzelzahlungen in Höhe von insgesamt 63.294,51 € in Anspruch, die in der Zeit vom 30. März bis zum 13. Dezember über das Geschäftskonto der Schuldnerin bei der S.
an die Beklagte gelangt sind. Für die ersten vier Zahlungen enthielt der Kontoauszug zum Verwendungszweck die Angabe "Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom
15.03.2016". Die entsprechenden Sollbuchungen waren zudem mit "Drittschuldnerzahlungen" bezeichnet. Aufgrund einer durch den Kläger im Jahr 2021 veranlassten Anfrage bei der S.
stellte sich heraus, dass die ersten vier Zahlungen tatsächlich "im Kundenauftrag" veranlasst worden waren. Für die fünfte und sechste Zahlung nannte der Kontoauszug zum Verwendungszweck einen "PC- EU-Auftrag". Der Kläger befragte den Vorstand der Schuldnerin im Juni 2017, ob es zu Ratenzahlungen, Druckzahlungen oder Zahlungen zur Abwendung der Zwangsvollstreckung gekommen sei. Nach der Behauptung des Klägers verneinte der Vorstand der Schuldnerin diese Fragen.
Mit seiner am 29. November 2021 bei Gericht eingegangenen und der Beklagten am 17. Dezember 2021 zugestellten Klage verlangt der Kläger Rückzahlung von 63.294,15 €. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat eine grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers von den die streitgegenständlichen Anfechtungsansprüche begründenden Tatsachen bereits vor Ablauf des Jahres angenommen und die Ansprüche deshalb als verjährt angesehen. Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg gehabt. Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde will der Kläger die Zulassung der Revision erreichen, um sein ursprüngliches Klageziel in vollem Umfang weiterzuverfolgen.
II.
Die Revision ist zuzulassen und begründet, weil der angefochtene Beschluss den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Das Berufungsgericht hat gemeint, dem vom Kläger geltend gemachten Rückgewähranspruch stehe jedenfalls die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Zu Recht sei das Landgericht von einer bereits vor Ablauf des Jahres 2017 eingetretenen grob fahrlässigen Unkenntnis ausgegangen. In Anbetracht seiner Vorbefassung mit Erstellung eines Sachverständigengutachtens im Eröffnungsverfahren und des keinesfalls umfangreichen Zuschnitts des eröffneten Insolvenzverfahrens sei es dem Kläger ohne weiteres möglich gewesen, bis zum Ende des Jahres 2017 die Kontoauszüge bei der Sparkasse, soweit sie nicht ohnehin vorgelegen hätten, anzufordern und den Hintergrund der Zahlungen an die Beklagte zu klären. Das Landgericht habe zu Recht darauf abgestellt, dass sich bei Auswertung der Kontoauszüge der Verdacht aufgedrängt hätte, dass die Beklagte freiwillige Zahlungen der Schuldnerin unter dem Druck der Zwangsvollstreckung erlangt habe. Insofern habe Anlass bestanden, die Klärung bei der S.
ob es sich um einen Kundenauftrag gehandelt habe, bereits 2017 und nicht erst 2021 vorzunehmen.
Der Kläger habe auch davon ausgehen müssen, dass die Schuldnerin zum Zeitpunkt der Rechtshandlungen zahlungsunfähig gewesen sei. Daher hätten ausreichende Anhaltspunkte bestanden, um den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin und die Kenntnis der Beklagten hiervon prüfen zu können.
2. Das verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise.
a) Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. etwa BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; BGH, Beschluss vom 2. November 2021 - IX ZR 39/20, NJW-RR 2022, 69 Rn. 5; vom 23. April 2024 - VIII ZR 35/23, juris Rn. 11; st. Rspr.). Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BGH, Beschluss vom 23. April 2024, aaO mwN).
In den Entscheidungsgründen müssen die wesentlichen Tatsachen- und Rechtsausführungen verarbeitet werden. Wenn ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu würdigen und in den Entscheidungsgründen hierzu Stellung zu nehmen. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde (BGH, Beschluss vom 23. April 2024 - VIII ZR 35/23, juris Rn. 12; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 - IV ZB 4/20, NJW-RR 2020, 1389 Rn. 17; vom 1. Juni 2023 - I ZR 154/22, juris Rn. 12; jeweils mwN).
b) Nach diesen Grundsätzen liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor.
aa) Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 BGB ist anzunehmen, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder dasjenige nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung vorgeworfen werden können (BGH, Urteil vom 27. Juli 2023 - IX ZR 138/21, BGHZ 238, 76 Rn. 18 mwN). Dabei bezieht sich die grob fahrlässige Unkenntnis ebenso wie die Kenntnis auf alle Merkmale der Anspruchsgrundlage (vgl. BGH, Urteil vom 27. Juli 2023, aaO Rn. 19 mwN). Geht es wie hier um eine Anfechtung nach den §§ 129 ff InsO muss sich die grob fahrlässige Unkenntnis auf alle Tatbestandsmerkmale des jeweiligen Anfechtungsanspruchs beziehen. Grob fahrlässige Unkenntnis muss mithin insbesondere im Hinblick auf die Tatsachen vorliegen, welche die anfechtbare Rechtshandlung, die Gläubigerbenachteiligung und die besonderen objektiven und subjektiven Voraussetzungen des jeweiligen Anfechtungstatbestands begründen. Sind dem Insolvenzverwalter nur einzelne der anspruchsbegründenden Tatsachen entweder positiv bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt, rechtfertigt dies allein noch nicht den Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis des Anfechtungstatbestands insgesamt (vgl. BGH, Urteil vom 27. Juli 2023, aaO Rn. 25 mwN).
bb) Das Landgericht hat die grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers von den sechs streitgegenständlichen Rückgewähransprüchen aus § 143 Abs. 1 InsO im Ausgangspunkt auf eine fehlende Auswertung der Kontoauszüge der Schuldnerin aus dem Jahr 2016 gestützt. Aus der Auswertung hätte sich ergeben, dass es ab dem 30. März 2016 eine Vielzahl von Drittschuldnerzahlungen der Sparkasse an die Beklagte gegeben habe. Deshalb habe sich dem Kläger zwingend der Verdacht aufdrängen müssen, die Beklagte habe freiwillige Zahlungen der Schuldnerin unter dem Druck der Zwangsvollstreckung erlangt.
Nach dieser rechtlichen Beurteilung war von entscheidender Bedeutung für die Annahme einer grob fahrlässigen Unkenntnis, ob es sich um freiwillige Zahlungen der Schuldnerin handelte, weil der für die streitgegenständlichen Rückgewähransprüche einzig in Betracht kommende Anfechtungstatbestand des § 133 Abs. 1 InsO eine Schuldnerhandlung voraussetzt. Zwar kommt eine Schuldnerhandlung im Sinne des § 133 Abs. 1 InsO auch in Betracht, wenn es im Rahmen oder aus Anlass einer Zwangsvollstreckung zu einer Vermögensverlagerung kommt und dazu zumindest auch eine selbstbestimmte Rechtshandlung des Schuldners beigetragen hat. Fördert der Schuldner eine Vollstreckungsmaßnahme, kann dies die Qualifizierung der Vermögensverlagerung als Rechtshandlung des Schuldners rechtfertigen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juni 2017 - IX ZR 48/15, ZIP 2017, 1281 Rn. 15 mwN; st. Rspr.). Ein Verdacht auf den dafür erforderlichen Mitwirkungsbeitrag der Schuldnerin (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juni 2017, aaO Rn. 16 ff) ergab sich aus den in den Kontoauszügen ausgewiesenen Drittschuldnerzahlungen jedoch nicht - erst recht kein zwingender. Die Zahlung eines Drittschuldners ist dessen Rechtshandlung. Ob und falls ja inwieweit eine selbstbestimmte Rechtshandlung des Schuldners dazu beigetragen hat, lässt sich der Bezeichnung einer Zahlung in einem Kontoauszug als Drittschuldnerzahlung nicht entnehmen. Wenn es keine weiteren Anhaltspunkte - etwa für eine Falschbezeichnung in dem Kontoauszug - gibt, kann vielmehr ohne grobe Fahrlässigkeit davon ausgegangen werden, dass die Zahlung allein durch den Drittschuldner veranlasst worden ist. Dass es noch im Jahr 2017 solche Anhaltspunkte gab, hat das Landgericht nicht festgestellt.
Auf den fehlerhaften Rückschluss des Landgerichts aus dem Begriff der Drittschuldnerzahlung hat der Kläger in seiner Berufungsbegründung unter Vorlage entsprechender Kontoauszüge hingewiesen. Er hat damit einen wesentlichen Berufungsangriff darauf gestützt, die Annahme einer grob fahrlässigen Unkenntnis gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im erstinstanzlichen Urteil sei schon im Ausgangspunkt unbegründet. Er hat zudem in tatsächlicher Hinsicht geltend gemacht, dass die Angaben in den vom Landgericht herangezogenen Kontoauszügen keinen Rückschluss auf eine Schuldnerhandlung zuließen und dies auch bei sorgfältigster Auswertung der Kontounterlagen nicht zu erkennen gewesen wäre. Es fehle weiter an Feststellungen, welche Unterlagen oder Informationen er hätte erlangen können. Auf diese Angriffe, welche der Kläger in seiner Stellungnahme zum Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts wiederholt und ergänzt hat, ist das Berufungsgericht weder in seinem Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO noch im Zurückweisungsbeschluss eingegangen. Ohne Begründung und ohne Auseinandersetzung mit diesen Berufungsangriffen hat es angenommen, das Landgericht habe zu Recht darauf abgestellt, bei Auswertung der Kontoauszüge habe sich der Verdacht aufgedrängt, dass die Beklagte freiwillige Zahlungen der Schuldnerin unter dem Druck der Zwangsvollstreckung erlangt habe.
c) Die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, hätte es das Vorbringen des Klägers in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen, eine grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers von den streitgegenständlichen Anfechtungsansprüchen noch im Jahre 2017 verneint hätte, weil sich aus dem Begriff der Drittschuldnerzahlung kein (hinreichender) Verdacht auf eine Schuldnerhandlung im Sinne des § 133 Abs. 1 InsO ergab.
III.
Die angefochtene Entscheidung kann folglich keinen Bestand haben. Sie ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Soweit sich das Berufungsgericht von seinem Standpunkt aus konsequent nicht mit den Umständen der fünften und sechsten Zahlung auseinandergesetzt hat, wird dies anhand der vom Bundesgerichtshof mit Urteil vom 27. Juli 2023 (IX ZR 138/21, BGHZ 238, 76) entwickelten Grundsätze nachzuholen sein. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass es für die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den die Anfechtungsansprüche begründenden Tatsachen nicht darauf ankommt, auf welche der Kläger sich stützt, um (insbesondere) die subjektiven Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO zu begründen. Maßgeblich sind die auf der Grundlage des Gesetzes und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlichen Tatsachen.
2. Allein die Pflicht des Insolvenzverwalters, nach Insolvenzeröffnung insbesondere auch Anfechtungsansprüche zu ermitteln, bedeutet - anders als die auf die Ermittlungspflicht gestützte Begründung des Berufungsgerichts befürchten lässt - nicht zugleich eine grob fahrlässige Unkenntnis von Anfechtungsansprüchen, die sich bei einer sofortigen Aufnahme der Ermittlungen hätten erkennen lassen. Es ist vielmehr zwischen der Verletzung einer Ermittlungspflicht und dem Grad des Verschuldens zu unterscheiden (BGH, Urteil vom 27. Juli 2023 - IX ZR 138/21, BGHZ 238, 76 Rn. 23). Insoweit wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, aus welchen Gründen im Streitfall bereits in den ersten sechs Monaten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. Juli 2017 unterlassene Ermittlungen hinsichtlich der Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO eine grob fahrlässige Pflichtverletzung darstellen. Die Ermittlungspflicht des Insolvenzverwalters besteht nicht im Interesse des Anfechtungsgegners an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährung, sondern im Interesse der Masse an der rechtzeitigen und erfolgreichen Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen. Sofern grobe Fahrlässigkeit erst ab dem 1. Januar 2018 vorgelegen haben sollte, hätte die am 17. Dezember 2021 zugestellte Klage die Verjährung gehemmt (§§ 195, 199 Abs. 1, § 201 Abs. 1 Nr. 1 BGB).
Schoppmeyer Weinland Röhl Kunnes Schultz Vorinstanzen: LG Köln, Entscheidung vom 24.10.2022 - 16 O 433/21 OLG Köln, Entscheidung vom 28.04.2023 - 2 U 51/22 -