IV ZB 27/20
BUNDESGERICHTSHOF IV ZB 27/20 BESCHLUSS vom 10. November 2021 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2021:101121BIVZB27.20.0 Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin Mayen, die Richterin Harsdorf-Gebhardt, die Richter Dr. Götz, Dr. Bommel und Rust am 10. November 2021 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde der den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht vertretenden Rechtsanwältin gegen den Beschluss des 16. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 7. Juli 2020 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Gründe:
I. Der Kläger, der bei der Beklagten eine private Krankenversicherung unterhält, wendet sich mit seiner Klage gegen mehrere von der Beklagten vorgenommene Beitragserhöhungen.
Mit Schriftsatz vom 17. April 2020 reichte die Beklagte eine Zusammenstellung von Unterlagen ein, die den im Rahmen des Prämienanpassungsverfahrens tätigen Treuhändern seinerzeit überlassen worden waren. In einer Aufstellung markierte die Beklagte einzelne Unterlagen als aus ihrer Sicht geheimhaltungsbedürftig.
Gleichzeitig widersprach die Beklagte der Weiterleitung der als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Unterlagen an die Klägerseite vor der Anordnung der Geheimhaltung und regte an, die Öffentlichkeit zum Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse auszuschließen sowie unter anderem den Kläger und dessen Prozessbevollmächtigte zur Geheimhaltung hinsichtlich der als geheimhaltungsbedürftige Tatsachen gekennzeichneten Unterlagen zu verpflichten.
In der zunächst öffentlichen Sitzung des Landgerichts am 13. Mai 2020 erschienen die Rechtsbeschwerdeführerin als Prozessbevollmächtigte des selbst nicht anwesenden Klägers sowie ein Prozessbevollmächtigter der Beklagten. Nachdem für die weitere Verhandlung auf der Grundlage von § 172 Nr. 2 GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden war, beschloss die Zivilkammer nach Gewährung rechtlichen Gehörs, die Klägervertreterin hinsichtlich der Tatsachen, die in der Aufstellung als geheimhaltungsbedürftige Unterlagen markiert sind, zur Geheimhaltung zu verpflichten.
Der gegen diesen Beschluss gerichteten sofortigen Beschwerde der Klägervertreterin hat das Landgericht nicht abgeholfen. Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen.
Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Klägervertreterin ihr Ziel weiter, die Aufhebung der Geheimhaltungsanordnung des Landgerichts zu erreichen.
II. Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für den Erlass einer Geheimhaltungsanordnung seien gemessen an § 174 Abs. 3 GVG erfüllt. Bei den in Rede stehenden Kalkulationsunterlagen handele es sich um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Zu Recht sei das Landgericht auch von einem schutzwürdigen Interesse an der Nichtverbreitung des Inhalts dieser Unterlagen ausgegangen. Dem stehe nicht entgegen, dass nach der Behauptung der Klägerseite den Klägervertretern die betroffenen Unterlagen bereits aus Parallelverfahren bekannt seien, in denen ihnen die Unterlagen ohne vorherige Geheimhaltungsanordnung überlassen worden seien. Es bestehe jedenfalls ein legitimes Interesse der Beklagten, dass die Geschäftsgeheimnisse nicht weiterverbreitet werden. Die maßgebliche Kenntnis der im Termin anwesenden Klägervertreterin sei mit der bloßen Behauptung einer "Kenntnis der Klägervertreter" auch nicht dargetan. § 174 Abs. 3 GVG ermögliche es schließlich auch, nicht alle Anwesenden zur Verschwiegenheit zu verpflichten.
III. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig.
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdegegnerin ist die Rechtsbeschwerde unbeschränkt zugelassen worden. Soweit das Beschwerdegericht ausgeführt hat, die Rechtsbeschwerde werde gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zugelassen, weil es teilweise von der eigenen Entscheidung abweichende obergerichtliche Rechtsprechung zur Frage gebe, ob sämtliche Anwesende in der mündlichen Verhandlung zur Verschwiegenheit verpflichtet seien, liegt darin lediglich eine Begründung für die Zulassung des Rechtsmittels (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021
- IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120 Rn. 10; Senatsurteil vom 31. März 2021 - IV ZR 221/19, WM 2021, 838 Rn. 19).
2. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
a) Landgericht und Beschwerdegericht sind zutreffend davon ausgegangen, dass hier die Anordnung einer Geheimhaltungsverpflichtung in Betracht kommt.
Wie der Senat bereits wiederholt entschieden und näher ausgeführt hat, haben die Zivilgerichte beim Streit zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer über die Wirksamkeit einer Prämienanpassung im Rahmen einer privaten Krankenversicherung unter Berücksichtigung sowohl der Interessen des Versicherungsnehmers wie auch des Versicherers zu prüfen, ob einem Interesse des Versicherers an der Geheimhaltung der für die Prämienkalkulation maßgeblichen Berechnungsgrundlagen durch die Anwendung der §§ 172 Nr. 2, 173 Abs. 2, 174 Abs. 3 Satz 1 GVG Rechnung getragen werden kann (Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 12; vom 14. Oktober 2020 - IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605 Rn. 20; Senatsurteil vom 9. Dezember 2015 - IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 9).
b) Im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens obliegt es grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden. Das Rechtsbeschwerdegericht kann lediglich überprüfen, ob der Tatrichter sein Ermessen verkannt, die Grenzen seines Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat
(Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 13 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 21).
Gemessen hieran lässt die Beschlussfassung durch das Landgericht keine Ermessens- oder Rechtsfehler erkennen:
aa) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist die Geheimhaltungsanordnung nicht deshalb fehlerhaft, weil der Beschluss des Landgerichts auf die Bezeichnung der geheim zu haltenden Unterlagen beschränkt ist, ohne hierneben noch weitere Einschränkungen bezogen auf den Ausschluss von möglichen Vorkenntnissen der zur Geheimhaltung Verpflichteten vorzunehmen.
Zwar umfasst die Geheimhaltungsverpflichtung nur solche Tatsachen, die dem zum Schweigen Verpflichteten nicht bereits vorher bekannt waren (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 34).
Ein solcher Fall aber ist hier nicht gegeben. Für das Landgericht wie auch für das Beschwerdegericht stand nicht fest, dass die im Termin anwesende Klägervertreterin Vorkenntnisse bezogen auf die von der Geheimhaltungsanordnung betroffenen Unterlagen hatte.
Insoweit fehlt substantieller Vortrag, hinsichtlich welcher der als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Unterlagen Vorkenntnisse bestehen. Nicht ausreichend für eine Begrenzung des tatrichterlichen Ermessens, der Geheimhaltungsanregung der Beklagtenseite zu entsprechen, ist es, wenn in der Beschwerdebegründung ausgeführt wird, dass "erhebliche Teile" der im Beschluss genannten Anlagen "den Klägervertretern bereits aus Parallelverfahren bekannt sein müssten". Gleiches gilt für den Vortrag aus der Stellungnahme der Klägervertreterin zum Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts, wenn sie dort ohne eine weitergehende Vereinzelung ausführt, die Vorkenntnisse ließen sich "problemlos belegen".
bb) Ein Ermessensfehler des Tatrichters folgt entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht aus einer unzureichenden Aufklärung des Sachverhalts.
(1) Wie der Senat bereits entschieden hat, ist das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus ohne weiteres umfangreiche Ermittlungen dazu anzustellen, hinsichtlich welcher im Gerichtssaal anwesenden Person nur noch ein eingeschränktes oder gar kein Bedürfnis für die Geheimhaltungsverpflichtung mehr besteht, weil ihr alle oder einige der aus Sicht des Geheimnisträgers zu schützenden Tatsachen bereits bekannt sind (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 22). Vielmehr kann das Gericht bei seiner Ermessensausübung auch ein nur möglicherweise bestehendes Geheimhaltungsinteresse berücksichtigen (Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 22 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 33).
Darüber hinaus ist bei der Überprüfung, ob sich der Tatrichter bei der Geheimhaltungsanordnung im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens bewegt hat, auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung abzustellen. Entscheidend ist hierbei, ob zu diesem Zeitpunkt aus Sicht des Tatrichters damit zu rechnen war, dass demjenigen Tatsachen durch die Verhandlung oder durch ein das Verfahren betreffendes amtliches Schriftstück zur Kenntnis gelangen, dessen Verpflichtung zur Geheimhaltung in Rede steht (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 23; zur vergleichbaren Rechtslage bei der Ermessensausübung des Tatrichters im Rahmen der Beschlussfassung nach § 172 Nr. 2 GVG vgl. Senatsurteil vom 9. Dezember 2015 - IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 10).
(2) Legt man dies zugrunde, ist hier ohne weiteres von dem tatrichterlichen Ermessen gedeckt, den Beschluss betreffend die umfassende Geheimhaltungsanordnung zu fassen, ohne eine zeitaufwändige, umfassende Aufklärung möglicher Vorkenntnisse vorzunehmen. Auch nach Gewährung rechtlichen Gehörs hatten sich für das Landgericht keinerlei substantielle Ansatzpunkte dafür ergeben, in der Person der Klägervertreterin Vorkenntnisse zu vermuten, die vor Ausübung des tatrichterlichen Ermessens Anlass für weitere Ermittlungen gegeben hätten.
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist bei der Entscheidung zur Geheimhaltungsanordnung ohne Relevanz, ob bei anderen Klägervertretern möglicherweise Vorkenntnisse bestanden haben. Dies gilt schon deshalb, weil sich nach dem Wortlaut des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG die Geheimhaltungsanordnung nur auf anwesende Personen bezieht (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 25); diese Voraussetzung ist hier nur für die Rechtsbeschwerdeführerin erfüllt.
Das Landgericht war schließlich entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht gehalten, im Rahmen seiner Ermessensentscheidung Fragen einer zukünftigen Gefahr strafrechtlicher Ermittlungsverfahren gegen die zur Geheimhaltung Verpflichtete nachzugehen (vgl. dazu näher Senatsbeschluss vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 26).
cc) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ergeben sich aus dem Beschluss des Landgerichts wie auch aus der Entscheidung des Beschwerdegerichts keine Anhaltspunkte für eine ermessensfehlerhafte Vorgehensweise dahingehend, entgegen den Vorgaben des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG die Geheimhaltungsanordnung auf bestehende Vorkenntnisse mit erstrecken zu wollen.
dd) Die Geheimhaltungsanordnung erweist sich entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch nicht als rechtsfehlerhaft, weil mit ihr den Klägervertretern die Möglichkeit der Verwendung von Kenntnissen aus dem vorliegenden Verfahren in anderen Parallelrechtsstreitigkeiten genommen wird. Dies ist nicht Sinn und Zweck der Erörterung der Berechnungsgrundlagen im Rechtsstreit mit der Beklagten (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 28 und vom 14. Oktober 2020 aaO Rn. 22).
ee) Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde schließlich geltend, dass die Geheimhaltungsverpflichtung deshalb rechtsfehlerhaft sei, weil sie nicht auch auf den anwesenden Beklagtenvertreter erstreckt worden ist.
Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung des Rechtsbeschwerdevorbringens keine Veranlassung, von seiner Rechtsauffassung abzurücken, dem Gericht sei ein Auswahlermessen jedenfalls für die Fälle des § 172 Nr. 2 und 3 GVG auch eröffnet hinsichtlich der nach Ausschluss der Öffentlichkeit noch im Sitzungssaal verbliebenen und zur Geheimhaltung zu verpflichtenden Personen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2021 aaO Rn. 30 und vom 14. Oktober 2020 Rn. 28 ff.).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Götz Dr. Bommel Rust Vorinstanzen: LG Kiel, Entscheidung vom 13.05.2020 - 5 O 136/17 OLG Schleswig, Entscheidung vom 07.07.2020 - 16 W 46/20 -