VIa ZR 1346/22
BUNDESGERICHTSHOF VIa ZR 1346/22 BESCHLUSS vom 23. April 2024 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2024:230424BVIAZR1346.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. April 2024 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Krüger, Wille und den Richter Liepin beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 18. August 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Gegenstandswert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 80.000 € festgesetzt.
Gründe: I.
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger kaufte am 25. Februar 2019 von einem Händler ein Wohnmobil Knaus Van I 650 MEG. Das von der Beklagten hergestellte Basisfahrzeug Fiat Ducato ist mit einem 2,3-Liter-Dieselmotor ausgerüstet. Es verfügt nach Angaben des Klägers über ein System, das die Abgasrückführung 22 Minuten nach dem Motorstart verringert und die NSK-Regeneration nach 100 Kilometern deaktiviert sowie über ein Thermofenster und eine Lenkwinkelerkennung. Für das Basisfahrzeug hatte eine Behörde der Italienischen Republik eine EG-Typgenehmigung erteilt.
Der Kläger hat zuletzt die Zahlung von 79.886,52 € nebst Verzugszinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, die Feststellung der Erledigung des ursprünglich weitergehenden Zahlungsantrags, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Prozesszinsen und die Freistellung von weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde. Mit der zuzulassenden Revision möchte er seine Berufungsanträge weiterverfolgen.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Dem Kläger stünden keine deliktischen Ansprüche zu. Er behaupte zwar bestimmte Funktionsweisen seines Fahrzeugs (unter anderem Verringerung der Abgasrückführung nach 22 Minuten, Deaktivierung der NSK-Regeneration nach 100 Kilometern, Thermofenster, Lenkwinkelerkennung), die er als Abschalteinrichtungen bewerte. Für die Richtigkeit seines von der Beklagten bestrittenen Vortrags sprächen jedoch keine tatsächlichen Anhaltspunkte. Die Beklagte habe in der Klageerwiderung nicht lediglich Rechtsansichten geäußert, sondern vorgetragen, das Fahrzeug des Klägers halte in jeglichen Betriebssituationen sämtliche relevanten Grenzwerte ein und die Emissionen sowie die diesbezügliche technische Ausstattung des Fahrzeugs entsprächen sämtlichen relevanten rechtlichen Vorgaben. Dieser Vortrag lasse die Absicht erkennen, die vom Kläger vorgetragenen Eigenschaften und Funktionsweisen des Fahrzeugs, die er als unzulässige Abschalteinrichtungen bewerte, insgesamt bestreiten zu wollen. Einer diesbezüglichen Rückfrage an die Beklagte bedürfe es deshalb nicht. Demzufolge komme es auf die etwaigen Schutzwirkungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EGFGV nicht an.
2. Durch diese Beurteilung hat das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
a) Das Gebot rechtlichen Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Dabei gewährt Art. 103 Abs. 1 GG zwar keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Vortrags verstößt jedoch gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet, weil sie die einschlägigen prozessrechtlichen Vorschriften offenkundig missachtet, und dadurch den Prozessvortrag des Klägers übergeht (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Mai 2017 - VI ZR 85/16, NJW 2017, 2623 Rn. 7; Beschluss vom 5. März 2019 - VIII ZR 190/18, NJW 2019, 1950 Rn. 10 f.).
Hiervon ist auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei darauf beruht, dass das Gericht die Vorschrift des § 138 Abs. 3 ZPO zu den Folgen der Erklärungslast der Parteien gem. § 138 Abs. 2 ZPO in offenkundig fehlerhafter Weise gehandhabt hat. Da nach § 138 Abs. 3 ZPO Tatsachen, die nicht ausdrücklich oder konkludent bestritten werden, vom Gericht als zugestanden anzusehen und der Entscheidung ohne Weiteres zugrunde zu legen sind, kann die offenkundig fehlerhafte Anwendung dieser Bestimmung - ähnlich wie die von Präklusionsvorschriften - dazu führen, dass entscheidungserheblicher Sachvortrag der Partei nicht in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2022 - VIII ZR 285/21, NJW-RR 2022, 1144 Rn. 13).
b) Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Gehörsverletzung anzulasten. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt, hat es in offensichtlich fehlerhafter Anwendung der Regelung des § 138 Abs. 3 ZPO und unter Fehlinterpretation des Vorbringens der Beklagten angenommen, diese habe in der Klageerwiderung vom 20. Juni 2021 den Vortrag des Klägers zu bestimmten Funktionsweisen (wie Verringerung des Abgasrückführungssystems nach 22 Minuten, Deaktivierung der NSK-Regeneration nach 100 Kilometern, Thermofenster und Lenkwinkelerkennung) und zu den damit einhergehenden emissionsrelevanten Eigenschaften des Fahrzeugs insgesamt in Abrede gestellt.
aa) Die Beklagte hat in der Klageerwiderung vorgebracht, das Fahrzeug des Klägers enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Insbesondere enthalte es keine Prüfstandserkennungssoftware, sondern arbeite im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens nicht anders als außerhalb dieses Verfahrens. Der im Fahrzeug verbaute Dieselmotor entspreche in jeder Hinsicht den maßgeblichen Anforderungen. Die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte sei ausschließlich in dem für die Erteilung der EG-Typgenehmigung maßgeblichen und in der Durchführungsverordnung (EG) 692/2008 festgeschriebenen Verfahren zu überprüfen und nachzuweisen. Das Fahrzeug halte nach den darin festgelegten Prüfbedingungen die Emissionsgrenzwerte ein. Dies sei formal und materiell durch die italienische Typgenehmigung nachgewiesen, die für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits verbindlich sei. Welche Emissionsergebnisse bei Tests erzielt würden, die unter anderen als den nach der Durchführungsverordnung (EG) 692/2008 festgelegten Prüfbedingungen und -abläufen gewonnen würden, sei unerheblich.
bb) Dieses Vorbringen lässt nicht erkennen, dass die Beklagte das Vorhandensein der vom Kläger angeführten technischen Einrichtungen in Abrede gestellt hätte. Sie hat sich zu deren Einbau nicht weiter geäußert, sondern erklärt, sie sehe davon ab, zu den unsubstantiierten, sich erkennbar nicht auf den konkreten Sachverhalt und das streitgegenständliche Fahrzeug beziehenden Behauptungen in der Klageschrift im Einzelnen Stellung zu nehmen. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts hat sich die Beklagte auch nicht zum Emissionsverhalten des Fahrzeugs in jeglicher Betriebssituation geäußert. Ihr Vortrag beschränkt sich offenkundig darauf, das Fahrzeug halte unter den Bedingungen des Prüfverfahrens die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte sowohl auf dem Prüfstand als auch im realen Fahrbetrieb ein. Insofern ist ihr Vorbringen ersichtlich von dem - ausweislich nach Erlass der angegriffenen Entscheidung ergangener höchstrichterlicher Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022 - C-128/20, NJW 2022, 2605 Rn. 40, 42, 44 und 47; BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 14 f. und 50 f.) unzutreffenden - Rechtsstandpunkt getragen, für die Annahme einer Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 sei allein die Funktionsweise des Fahrzeugs und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte unter den Bedingungen des Prüfverfahrens von Bedeutung, wie sie durch die EG-Typgenehmigung bescheinigt werde. Dann aber lässt sich dem erstinstanzlichen Vorbringen der Beklagten nicht ansatzweise entnehmen, dass sie die vom Kläger vorgetragene Reduzierung der Abgasrückführung nach 22 Minuten und bei Temperaturen unter 17° C und über 33° C sowie die Deaktivierung der NSK-Regeneration nach 100 Kilometern in Abrede gestellt hätte. Unter diesen Umständen hätte das Berufungsgericht mit Blick auf die Klageerwiderung keinesfalls ohne eine Rückfrage bei der Beklagten (§ 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO) annehmen dürfen, sie habe den Einbau der vom Kläger angeführten technischen Einrichtungen bestritten (BeckOK ZPO/von Selle, 52. Edition, Stand: 1. März 2024, § 138 Rn. 21; Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 21. Auflage, § 138 Rn. 14).
3. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht auch dem Vortrag der Beklagten in der Berufungserwiderung, sie bestreite weiter den Verbau einer Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug, nicht die eindeutige Aussage entnommen hätte, im Fahrzeug seien keine Einrichtungen vorhanden, die das Emissionsverhalten des Fahrzeugs veränderten und im normalen Fahrbetrieb zu einer Erhöhung des Schadstoffausstoßes führten. Es ist nicht auszuschließen, dass eine gebotene Nachfrage bei der Beklagten ergeben hätte, dass diese den tatsächlichen Einbau der vom Kläger benannten technischen Einrichtungen in dessen Fahrzeug und einen Einfluss ihrer Funktionsweise auf das Emissionsverhalten des Fahrzeugs im Straßenbetrieb nicht in Abrede stelle.
Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht in diesem Fall einen Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung bejaht hätte (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245). Soweit das Berufungsgericht angenommen hat, es sei nichts dafür ersichtlich, dass für das Fahrzeug des Klägers zu irgendeinem Zeitpunkt die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die Zulassungsbehörde bestanden hätte und dem Kläger daher durch den Abschluss des zugrundeliegenden Kaufvertrags ein Schaden entstanden sein könnte, hat es diese Annahme ersichtlich auf das Fehlen einer unzulässigen Abschalteinrichtung gestützt.
C. Fischer Möhring Krüger Wille Liepin Vorinstanzen: LG Bonn, Entscheidung vom 27.10.2021 - 19 O 77/21 OLG Köln, Entscheidung vom 18.08.2022 - 19 U 215/21 -