VII ZR 274/21
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VII ZR 274/21 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 29. Februar 2024 Boppel, Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:290224UVIIZR274.21.0 Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 2. Februar 2024 eingereicht werden konnten, durch den Vorsitzenden Richter Pamp, den Richter Dr. Kartzke sowie die Richterinnen Borris, Dr. Brenneisen und Dr. C. Fischer für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 15. März 2021 aufgehoben, hinsichtlich des Antrags zu 1 nur insoweit, als er 39.085,22 € nicht übersteigt. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis zu 40.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand: 1 Der Kläger nimmt die Beklagte hinsichtlich eines von ihm im Juni 2016 als Gebrauchtwagen erworbenen und von der Beklagten hergestellten Fahrzeugs Audi SQ5 in Anspruch. Das Fahrzeug ist mit einem 3.0 l V6 Turbo-Dieselmotor (Euro 5) ausgestattet. Die Abgasrückführung erfolgt unter anderem temperaturgesteuert mittels eines sogenannten Thermofensters. Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückrufbescheid des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen betroffen. 2 Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag für das Fahrzeug nicht abgeschlossen. Mit der Klage hat er zuletzt die Rückzahlung des um eine Nutzungsentschädigung gekürzten Kaufpreises in Höhe von 45.598 € nebst Prozesszinsen aus 39.085,22 € Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, die Feststellung, dass sich die Beklagte im Annahmeverzug befinde, sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangt. 3 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter, den Antrag zu Ziffer 1 der Höhe nach beschränkt auf 39.085,22 €.
Entscheidungsgründe: 4 Die Revision hat im Umfang der Anfechtung Erfolg.
I. 5 Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, wie folgt begründet:
Die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung seien nicht dargetan. Für einen der Beweisaufnahme zugänglichen Sachvortrag genüge es auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 2020 (VIII ZR 57/19) nicht, sich auf die Verwendung eines Thermofensters und die Abweichung der Emissionen im Normalbetrieb gegenüber den Messungen im Verfahren nach dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) auf dem Rollenprüfstand zu berufen. Zwar möge ein Rückruf seitens des KBA nicht erforderlich sein, um von greifbaren Anhaltspunkten für eine Manipulation des Emissionsverhaltens auszugehen. Dann sei aber die Darlegung anderer konkreter Anhaltspunkte erforderlich, die dafür sprächen, dass die Beklagte zum Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses in Bezug auf das Thermofenster in dem Bewusstsein der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung gehandelt habe. Solche habe der Kläger weder vorgetragen noch seien sie anderweitig ersichtlich. Selbst wenn unterstellt werde, das im Fahrzeug verbaute Thermofenster stelle eine unzulässige Abschalteinrichtung dar, könne eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung nicht festgestellt werden, weil nicht belastbar auf eine von einem entsprechenden Vorsatz getragene, arglistige und sittenwidrige Schädigungshandlung der Fahrzeug- und Motorherstellerin geschlossen werden könne. Anders als die "Umschaltlogik" unterscheide die hier eingesetzte temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befinde.
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt im tenorierten Umfang zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Allerdings begegnet es auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen keinen revisionsrechtlichen Zweifeln, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB mangels vorsätzlichen und sittenwidrigen Verhaltens verneint hat. Die Revision zeigt nicht auf, dass dem Berufungsgericht bei der Würdigung der von ihm festgestellten Tatsachen und des von ihm als zutreffend unterstellten Sachvortrags des Klägers ein Rechtsfehler unterlaufen wäre (vgl. zur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfung BGH, Urteil vom 25. November 2021 - VII ZR 257/20 Rn. 32 m.w.N., WM 2022, 87). Sie legt auch nicht dar, dass das Berufungsgericht relevanten Sachvortrag oder Beweisantritte des darlegungs- und beweisbelasteten Klägers (vgl. BGH, Beschluss vom 14. März 2022 - VIa ZR 51/21 Rn. 21, juris; Urteil vom 13. Juli 2021 - VI ZR 128/20 Rn. 14, VersR 2021, 1252; Beschluss vom 9. März 2021 - VI ZR 889/20 Rn. 29, NJW 2021, 1814; Beschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19 Rn. 19, NJW 2021, 921) übergangen hätte.
2. Im Lichte der nach Erlass der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann allerdings eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens nicht ausgeschlossen werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 ff.).
Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Juni 2023 entschieden, dass von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart das Interesse des Käufers geschützt ist, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe in seinem Urteil vom 21. März 2023 (Az. C-100/21) Art. 3 Nr. 36, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG im Sinne des Schutzes auch der individuellen Interessen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 ausgerüsteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Fahrzeughersteller ausgelegt. Den Schutz der individuellen Interessen des Fahrzeugkäufers im Verhältnis zum Hersteller habe er dabei aus der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG vorgesehenen Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme des Fahrzeugs abgeleitet. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe das auf der Übereinstimmungsbescheinigung beruhende und unionsrechtlich geschützte Vertrauen des Käufers mit dessen Kaufentscheidung verknüpft und dem Unionsrecht auf diesem Weg einen von einer vertraglichen Sonderverbindung unabhängigen Anspruch des Fahrzeugkäufers gegen den Fahrzeughersteller auf Schadensersatz "wegen des Erwerbs" eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs entnommen. Das trage dem engen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen des Käufers auf die Ordnungsmäßigkeit des erworbenen Kraftfahrzeugs einerseits und der Kaufentscheidung andererseits Rechnung. Dieser Zusammenhang wiederum liege der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Erfahrungssatz zugrunde, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwerbe, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte. Dementsprechend könne der vom Gerichtshof geforderte Schutz des Käufervertrauens im Verhältnis zum Fahrzeughersteller, sollten Wertungswidersprüche vermieden werden, nur unter einer Einbeziehung auch der Kaufentscheidung gewährleistet werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245; Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20 Rn. 22, ZIP 2023, 1903). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. Urteile vom 26. Oktober 2023 - VII ZR 306/21 und VII ZR 619/21, juris).
III.
Danach hat der angefochtene Beschluss keinen Bestand. Er ist im tenorierten Umfang aufzuheben und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine Entscheidung in der Sache durch den Senat kommt nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Pamp Brenneisen Kartzke C. Fischer Borris Vorinstanzen: LG Ingolstadt, Entscheidung vom 27.07.2020 - 53 O 1355/19 OLG München, Entscheidung vom 15.03.2021 - 21 U 5209/20 -