IV ZR 84/25
BUNDESGERICHTSHOF IV ZR 84/25 BESCHLUSS vom 19. November 2025 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2025:191125BIVZR84.25.0 Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Karczewski, die Richterinnen Harsdorf-Gebhardt, Dr. Brockmöller, Dr. Bußmann und den Richter Piontek am 19. November 2025 beschlossen:
Der Senat beabsichtigt, die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Osnabrück - 9. Zivilkammer vom 21. März 2025 gemäß § 552a Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Die Parteien erhalten Gelegenheit, hierzu binnen eines Monats Stellung zu nehmen.
Gründe:
I. Die Parteien streiten über die Höhe der dem Versicherer nach erfolgter Anfechtung wegen arglistiger Täuschung zustehenden Prämie.
Die Klägerin hat mit dem Beklagten einen Vertrag über eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung geschlossen. Ihre zum Vertragsschluss führende Erklärung hat sie mit Schreiben vom 7. November 2022 wegen arglistiger Täuschung angefochten, weil es sich bei der vom Beklagten bei Vertragsschluss vorgelegten Bescheinigung eines serbischen Vorversicherers, die zu einer Einstufung in die Schadensfreiheitsklasse 13 mit einem Beitragssatz von 33 % führte, um eine Fälschung gehandelt habe.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin erstinstanzlich neben der Rückzahlung von ihr nach einem Schadensfall an den Unfallgegner gezahlter 3.521,13 € die Zahlung einer weiteren Prämie in Höhe von 1.208,83 €, jeweils nebst Zinsen, sowie Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 540,50 € verlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, ihr stehe nicht nur die Prämie zu, die sich aus der täuschungsbedingten Einstufung in die Schadensfreiheitsklasse 13 ergebe, sondern die irrtumsbedingt nicht vereinbarte - höhere - Prämie zu einem Beitragssatz von 100 %.
Das Amtsgericht hat den Beklagten zur Zahlung von 3.521,13 € nebst Zinsen verurteilt; die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Auf die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Landgericht den Beklagten zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 453,87 € verurteilt. Das weitergehende Rechtsmittel hat es zurückgewiesen und die Klage - soweit sie in der Berufungsinstanz um einen Antrag auf Feststellung erweitert worden ist, dass der Beklagte die Zahlung der Prämie aus einer unerlaubten Handlung schulde - abgewiesen.
II. Das Berufungsgericht hat angenommen, die dem Versicherer zustehende Prämie im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 2 VVG sei die tatsächlich (irrtumsbedingt) vereinbarte Prämie und nicht die hypothetisch (irrtumsfrei) zu vereinbarende Prämie. Der Wortlaut der Bestimmung gebe keinen belastbaren Anhaltspunkt, welche Prämie dem Versicherer zustehe, und auch die historischen Materialien ließen keinen Rückschluss auf den wahren Willen des Gesetzgebers zu. Die Regelung in § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG habe nach wohl einhelliger Meinung Sanktionscharakter. Sie solle den arglistig Täuschenden präventiv davon abhalten, bei Vertragsschluss (bewusst) falsche Angaben zu machen. Durchgreifende Gründe, dem arglistig getäuschten Versicherer eine andere Prämie zuzugestehen als die tatsächlich vereinbarte, bestünden hingegen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, mit der sie ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiterverfolgt.
III. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision im Sinne von § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO liegen nicht vor, und das Rechtsmittel hat auch keine Aussicht auf Erfolg (§ 552a Satz 1 ZPO).
1. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
a) Grundsätzliche Bedeutung, die das Berufungsgericht angenommen hat, kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann, wenn sie zweifelhaft ist, also über Umfang und Bedeutung einer Rechtsvorschrift Unklarheiten bestehen. Derartige Unklarheiten bestehen, wenn die Rechtsfrage vom Bundesgerichtshof bisher nicht entschieden ist und von einigen Oberlandesgerichten unterschiedlich beantwortet wird oder wenn in der Literatur unterschiedliche Meinungen vertreten werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 22. Mai 2024 - IV ZR 216/23, VersR 2024, 1127 Rn. 10; vom 25. Oktober 2023 - IV ZR 310/22, juris Rn. 9; jeweils m.w.N.). Darüber hinaus kann einer Rechtsfrage wegen ihres Gewichts für die beteiligten Verkehrskreise grundsätzliche Bedeutung zukommen (Senatsbeschluss vom 22. Mai 2024 aaO m.w.N.).
Die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage, welches die dem Versicherer zustehende Prämie im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG ist, ist zwar noch nicht Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung gewesen. Sie wird aber weder in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet noch ist sie in der Literatur umstritten und wird auch im Übrigen nicht kontrovers diskutiert. Es ist auch nicht ersichtlich, dass ihr besonderes Gewicht für die beteiligten Verkehrskreise zukommt. Insbesondere genügt es dafür nicht, dass das Landgericht Itzehoe im Jahr 2024 in einem von der Klägerin vorgelegten - unveröffentlichten - Urteil (3 O 383/23) abweichend entschieden hat.
b) Dementsprechend ist auch eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts nicht geboten. Ebenso liegt keine tragende Rechtssatzabweichung des Berufungsurteils von der Rechtsprechung eines höher- oder gleichrangigen Gerichts vor, die eine höchstrichterliche Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich machte. Die vom Berufungsurteil abweichende erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts Itzehoe begründet eine solche Divergenz nicht (vgl. BeckOGK-ZPO/Brückner, § 543 Rn. 35 f. [Stand: 1. Oktober 2025]; MünchKomm-ZPO/Krüger, 7. Aufl. § 543 Rn. 13).
2. Die Revision hat auch keine Aussicht auf Erfolg. Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass dem Versicherer nach § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG im Falle der Beendigung des Versicherungsverhältnisses durch eine von ihm erklärte Anfechtung die tatsächlich vereinbarte Prämie bis zum Wirksamwerden der Anfechtungserklärung zusteht, er hingegen nicht die Prämie verlangen kann, die er ohne die zur Anfechtung berechtigende Täuschung des Versicherungsnehmers bei zutreffender Kalkulation verlangt hätte. Das ergibt die Auslegung des § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG aus dem Wortlaut der Norm, der Gesetzessystematik, der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck der Vorschrift.
a) Allerdings lässt der Wortlaut der Bestimmung - wie das Berufungsgericht richtig erkannt hat - noch keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, nach welchen Grundsätzen die vom Versicherungsnehmer im Falle der Anfechtung durch den Versicherer geschuldete Prämie zu berechnen ist. Für ein Verständnis dahingehend, dass der Versicherer lediglich die mit dem Versicherungsnehmer tatsächlich vereinbarte Prämie verlangen kann, sprechen aber zunächst die systematische Einordnung der Bestimmung in den Abschnitt über die Prämie (§§ 33 ff. VVG) und die Legaldefinition der Prämie als "vereinbarte Zahlung" in der Bestimmung über die Hauptleistungspflicht des Versicherungsnehmers in § 1 Satz 2 VVG. Der Umstand, dass das Versicherungsvertragsgesetz für die unterschiedlichen Fallgestaltungen der vorzeitigen Vertragsbeendigung hinsichtlich der Leistungspflicht des Versicherungsnehmers eine differenzierte Regelung getroffen hat und hierbei den Begriff der "Prämie" einheitlich in diesem Sinne verwendet, ergibt sich zudem daraus, dass das Gesetz hinsichtlich des Entgelts unterschiedliche Begriffe gebraucht. Während § 39 Abs. 1 Satz 1 VVG im Fall der Beendigung des Versicherungsverhältnisses vor Ablauf der Versicherungsperiode dem Versicherer denjenigen "Teil der Prämie" zugesteht, der dem Zeitraum entspricht, in dem Versicherungsschutz bestanden hat und damit den nach § 40 Abs. 1 VVG in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung (im Folgenden: VVG a.F.) bestehenden Grundsatz der Unteilbarkeit der Prämie aufgibt (vgl. BT-Drucks. 16/3945 S. 72 li. Sp.), kann der Versicherer gemäß § 39 Abs. 1 Satz 3 VVG nach einem wegen Zahlungsverzugs des Versicherungsnehmers mit der Erstprämie erklärten Rücktritt (§ 37 Abs. 1 VVG) - anstelle der Prämie oder eines Teils der Prämie - eine "angemessene Geschäftsgebühr" verlangen.
b) Der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung und ihre Entstehungsgeschichte bestätigen dies.
aa) Die Bestimmung des § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG will dem Versicherer ein Druckmittel an die Hand geben, um einen präventiven Schutz gegen arglistige Täuschungen zu erreichen (vgl. Senatsurteil vom 1. Juni 2005 - IV ZR 46/04, BGHZ 163, 148, 153 [juris Rn. 15] zu § 40 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.). Sie hat mithin in den Fällen der Arglistanfechtung Sanktionscharakter (vgl. MünchKomm-VVG/Staudinger, 3. Aufl. § 39 Rn. 5). Dem Versicherer soll aus Gründen der Billigkeit ein Prämienanspruch bis zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Anfechtungserklärung eingeräumt werden (BT-Drucks. 16/3945 S. 72 li. Sp.), um dem Versicherungsnehmer keinen Anreiz dafür zu bieten, im Wege der arglistigen Täuschung einen günstigen Vertragsschluss zu suchen, der bei einer Anfechtung des Versicherers ohne effektive Sanktion bliebe (vgl. Brand in Looschelders/Pohlmann, VVG 4. Aufl. § 39 Rn. 6; HK-VVG/Karczewski, 5. Aufl. § 39 Rn. 4). § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG enthält insoweit eine Ausnahme zu dem in § 39 Abs. 1 Satz 1 VVG geregelten Grundsatz der Teilbarkeit der Prämie (Beckmann in Bruck/Möller, VVG 10. Aufl. § 39 Rn. 12) und trifft zugleich eine - verfassungsrechtlich unbedenkliche (vgl. Senatsurteil vom 1. Juni 2005 aaO S. 151 ff. [juris Rn. 11 ff.] zu § 40 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.) - Sonderregelung gegenüber den sich allgemein für den Fall der Nichtigkeit eines Vertrages infolge Anfechtung (§ 142 Abs. 1 BGB) aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB ergebenden Rechtsfolgen.
Entgegen der Auffassung der Revision gebietet es der Zweck der - als Ausnahmebestimmung eng auszulegenden (vgl. Senatsbeschluss vom 25. Januar 2023 - IV ZB 7/22, VersR 2023, 739 Rn. 13) - Regelung hingegen nicht, in Fällen, in denen sich die Täuschung des Versicherungsnehmers - wie vorliegend - auf unmittelbar für die Bemessung der Prämie relevante Umstände bezieht, dem Versicherer zudem einen Anspruch auf die Prämie zuzubilligen, die der Versicherungsnehmer bei einer auf zutreffenden Angaben beruhenden Prämienkalkulation geschuldet hätte. Die Regelung beschränkt sich vielmehr auf die Anordnung, trotz Anfechtung des Vertrages und damit einhergehender rückwirkender Aufhebung des Versicherungsverhältnisses dem Versicherer die erhaltenen Prämien zu belassen (vgl. Senatsurteil vom 1. Juni 2005 - IV ZR 46/04, BGHZ 163, 148, 151 [juris Rn. 10] zu § 40 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.; MünchKommVVG/Bußmann, 3. Aufl. § 22 Rn. 66). Einer weitergehenden Sanktion durch den Ansatz der Prämie, die dem Versicherer bei zutreffender Kalkulation ohne die Täuschung des Versicherungsnehmers zugestanden hätte, bedarf es nicht. Eine Besserstellung des unredlichen Versicherungsnehmers gegenüber dem redlichen Versicherungsnehmer, der zwar eine höhere Prämie gezahlt, dafür aber Versicherungsschutz genossen hätte, findet nicht statt. Dass der Versicherer in der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung im Außenverhältnis haftbar bleibt und er - wie jeder andere Gläubiger - das allgemeine Insolvenzrisiko des Versicherungsnehmers trägt, er mithin im Ausnahmefall faktisch das nach einer nicht risikogerecht kalkulierten Prämie übernommene Risiko tragen muss, ändert an dieser grundsätzlichen gesetzgeberischen Entscheidung, anders als die Revision meint, nichts.
bb) Dieses Verständnis entspricht auch der Entstehungsgeschichte der Bestimmung. Mit ihr hat der Gesetzgeber für den Fall der Anfechtung des Versicherers den Regelungsgehalt der Vorläuferbestimmung in § 40 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. übernommen. Deren bis zum 31. Dezember 2007 geltende Fassung wiederum geht zurück auf eine 1941 in Kraft getretene Gesetzesänderung (Nr. 17 der Verordnung zur Vereinheitlichung des Rechts der Vertragsversicherung vom 19. Dezember 1939, RGBl. I S. 2443, 2445), durch die nach der amtlichen Begründung (abgedruckt in Motive zum Versicherungsvertragsgesetz Neudruck 1963 S. 644) dem Umstand Rechnung getragen werden sollte, dass nach bisherigem Recht dem Versicherer bei Kündigung und Rücktritt die Prämie nur im Fall der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht und bei Gefahrerhöhung verblieb, wobei der Grund für den "Ausschluss der Prämienrückgewähr" darin gesehen wurde, dass der Versicherungsnehmer die empfangene Leistung nur insoweit zurückgewähren kann, als er wegen eines Versicherungsfalles entschädigt worden ist. Durch die Neufassung des § 40 Abs. 1 VVG a.F. hat der Gesetzgeber der von ihm unter anderem bei der Anfechtung als vergleichbar angesehenen Interessenlage Rechnung tragen wollen und zur Klarstellung bestimmt, dass die "Einbehaltung der Prämie" nur zulässig ist, wenn der Versicherer die Anfechtung ausgesprochen hat. Daran, dass dem Versicherer nach einer von ihm erklärten Anfechtung - wie mit der Vorläuferbestimmung hiernach bezweckt - nur die erhaltene Prämie zu belassen ist, ist auch nach Inkrafttreten des § 39 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VVG festzuhalten. Dem Gesetzgeber ging es erkennbar darum, den bisherigen Rechtszustand für den Fall einer rückwirkenden Vertragsbeendigung durch Anfechtung oder Rücktritt gewahrt zu wissen. Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherer einen darüber hinaus gehenden Prämienanspruch erhalten sollte, der sich auf der Grundlage einer zutreffenden Kalkulation ergeben hätte, lassen sich der Gesetzgebungsgeschichte nicht entnehmen.
Prof. Dr. Karczewski Harsdorf-Gebhardt Dr. Brockmöller Dr. Bußmann Piontek Hinweis: Das Revisionsverfahren ist durch Rücknahme der Revision erledigt worden.
Vorinstanzen: AG Osnabrück, Entscheidung vom 07.05.2024 - 47 C 1118/23 LG Osnabrück, Entscheidung vom 21.03.2025 - 9 S 86/24 -