XIII ZB 87/20
BUNDESGERICHTSHOF XIII ZB 87/20 BESCHLUSS vom 31. August 2021 in der Abschiebungshaftsache ECLI:DE:BGH:2021:310821BXIIIZB87.20.0 Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. August 2021 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richterin Prof. Dr. SchmidtRäntsch, den Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff und den Richter Dr. Tolkmitt beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal vom 13. November 2020 wird auf Kosten der Vertrauensperson des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I. Der Betroffene, ein albanischer Staatsangehöriger, reiste erstmals am 13. April 2015 nach Deutschland ein. Nach bestandskräftiger Ablehnung seines Asylantrags, seines Asylfolgeantrags und des Asylantrags seines jüngeren Kindes wurde er am 13. Dezember 2018 durch Mitarbeiter der beteiligten Behörde abgeschoben. Das für diesen Fall angeordnete gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot war von dem zuständigen Bundesamt in dem Bescheid über die Zurückweisung seines Asylfolgeantrags auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt worden. Am 6. Dezember 2019 reiste der Betroffene mit einem gültigen Reisepass erneut nach Deutschland ein. Mit Ordnungsverfügung vom 9. Oktober 2020, die dem Betroffenen gegen Empfangsbekenntnis am gleichen Tage zugestellt worden war, wies ihn die beteiligte Behörde 2020 aus Deutschland aus und drohte ihm die zwangsweise Abschiebung nach Albanien an. Am 9. Oktober 2020 erwirkte die beteiligte Behörde gegen den Betroffenen die Anordnung von Sicherungshaft bis zum 19. November 2020.
Am 19. Oktober 2020 hat sich F. unter Vorlage einer entsprechenden Vollmacht des Betroffenen als dessen Vertrauensperson gemeldet und beantragt, die Haft gemäß § 426 Abs. 2 FamFG aufzuheben und festzustellen, dass sie ab Eingang seines Antrags rechtswidrig gewesen sei. Das Amtsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Die Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit ihrer - nach der Abschiebung des Betroffenen nach Albanien am 19. November 2020 auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft seit dem 19. Oktober 2020 gerichteten Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt, verfolgt die Vertrauensperson des Betroffenen den Feststellungsantrag weiter.
II. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Der Aufhebungsantrag der Vertrauensperson des Betroffenen ist nach Auffassung des Beschwerdegerichts unbegründet. Die Haftanordnung des Amtsgerichts sei nicht zu beanstanden. Ihr habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Auch die sachlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft hätten vorgelegen. Der Betroffene sei unter Verstoß gegen das gegen ihn verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot und deshalb unerlaubt eingereist. Aus der unerlaubten Einreise ergebe sich nach § 62 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG der erforderliche Haftgrund. Dieser Haftgrund sei auch nicht verbraucht, da der Betroffene unmittelbar aufgrund der unerlaubten Einreise und damit ununterbrochen nach dem unerlaubten Betreten des Bundesgebiets vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei. Aus dem Verstoß des Betroffenen gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot ergebe sich außerdem der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 4 AufenthG. Anhaltspunkte dafür, dass sich aus dem Verstoß gegen das Einreiseverbot keine Fluchtgefahr ableiten lasse, seien nicht ersichtlich. Der Betroffene habe sich vor seiner ersten Abschiebung geweigert, das Bundesgebiet zu verlassen, bei der erneuten Einreise in das Bundesgebiet das Einreiseverbot missachtet und sich vor seiner Festnahme in der Wohnanlage versteckt. Daraus folge weiter, dass mildere Mittel nicht gegeben gewesen seien.
2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung stand.
a) Zu Recht ist das Beschwerdegericht von der Zulässigkeit des Feststellungsantrags der Vertrauensperson des Betroffenen ausgegangen. Die von der beteiligten Behörde hiergegen erhobenen Einwände sind unbegründet.
Der Feststellungsantrag nach § 62 FamFG soll dem Betroffenen die Möglichkeit geben, sich auch nach ihrer Beendigung gegen die unberechtigte Freiheitsentziehung und den in ihr enthaltenen unberechtigten Vorwurf zur Wehr zu setzen (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2013 - V ZB 22/12, BGHZ 196, 118 Rn. 12). Dieses Interesse ist unabhängig von dem konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme (BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2010 - V ZB 78/10, FGPrax 2011, 39 Rn. 12, vom 11. Oktober 2012 - V ZB 238/11, FGPrax 2013, 39 Rn. 6, und vom 18. Februar 2016 - V ZB 74/15, NVwZ-RR 2016, 635 Rn. 14) oder dem späteren (rechtswidrigen) Verhalten des Betroffenen (BGH, Beschluss vom 14. Januar 2016 - V ZB 174/14, juris Rn. 6) anzuerkennen.
b) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist auch in der Sache nicht zu beanstanden. Rechtsfehlerfrei nimmt es an, die Haftanordnung sei rechtmäßig gewesen und es habe kein Anlass bestanden, sie aufzuheben. Die von der Vertrauensperson des Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren hiergegen noch erhobenen Einwände sind nicht begründet.
aa) Der Haftanordnung hat ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Der Antrag der beteiligten Behörde erfüllt die gesetzlichen Anforderungen (vgl. § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG). Auch die Angaben zur erforderlichen Dauer der Haft waren im Ergebnis ausreichend. Der Rechtsbeschwerde ist allerdings zuzugeben, dass die von der beteiligten Behörde in ihrer Erwiderung auf den Haftaufhebungsantrag vom 27. Oktober 2020 gegebene Erklärung für die beantragte Dauer der Haft von etwa sechs Wochen, es sei eine ärztliche Begleitung geplant gewesen, weder in dem Haftantrag noch in den Ausländerakten einen Niederschlag gefunden hat. In dem Haftantrag hat die beteiligte Behörde Folgendes ausgeführt:
„Die Abschiebung kann schnellstmöglich erfolgen. Nach telefonischer Rücksprache mit der Zentralstelle für Flugabschiebungen in Bielefeld (ZFA) ist eine Überstellung nach Albanien nicht vor dem 19.11.2020 realisierbar; die beantragte Haftdauer ist auf das absolute Mindestmaß beschränkt (Akte: Seite 329). Die Fluganmeldung wurde am heutigen Tag umgehend veranlasst (Akte: Seiten 359 ff.).“
Danach sollte die Sicherungshaft nicht wegen einer Erkrankung des Betroffenen sechs Wochen dauern; die beteiligte Behörde führt in ihrem Haftantrag ausdrücklich aus, dass aufgrund einer ärztlichen Untersuchung des Betroffenen keine Bedenken gegen seine Haftfähigkeit bestünden. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Begleitung des Betroffenen wird in den Ausländerakten erstmals mit einer E-Mail der beteiligten Behörde an die „notarzt-boerse.de“ vom 6. November 2020 erwähnt. Die beantragte Dauer der Haft erklärt sich nach dem Verweis auf Seite 329 der Ausländerakte vielmehr daraus, dass die Abschiebung mit dem nächsterreichbaren, von der Zentralstelle so genannten Nationalcharter am 19. November 2020 erfolgen sollte. Diese Angabe reicht aber aus. Sie erlaubt dem Haftgericht konkrete Nachfragen und genügt deshalb den Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG. Ob sie inhaltlich tragfähig ist, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit des Haftantrags (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - XIII ZB 47/20, juris Rn. 13).
bb) Die Haftanordnung ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil das Amtsgericht die Ausländerakte nicht beigezogen hätte. Der Rechtsbeschwerde ist allerdings zuzugeben, dass das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum angemerkt hat, dass jedenfalls die nicht begründete Nichtbeiziehung der Ausländerakte die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung belaste, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen sei und hinsichtlich dessen es sich verbiete zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruhe (BVerfG, NVwZ-RR 2020, 801 Rn. 54 f.). Dieser Fall liegt hier aber nicht vor. Die beteiligte Behörde hat in ihrem Haftantrag nicht nur angekündigt, die Ausländerakte bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen vorzulegen. Sie hat ihrem Haftantrag alle relevanten Unterlagen in Kopie beigefügt und eine Mitarbeiterin zu dem - noch für denselben Tag anberaumten - Anhörungstermin entsandt, die, wie angekündigt, die vollständige Ausländerakte mit sich führte. Die beteiligte Behörde ist damit ihrer „Soll-Verpflichtung“ zur Vorlage der (Ausländer-) Akte des Betroffenen nach § 417 Abs. 2 Satz 3 FamFG nachgekommen. Durch die vorhergehende Übersendung der relevanten Aktenstücke und die Vorlage der kompletten Ausländerakte des Betroffenen bei dessen persönlicher Anhörung war auch sichergestellt, dass die genannte „Soll-Verpflichtung“ zur Vorlage der Ausländerakte den ihr zugedachten Zweck erreichte, nämlich, eine für die Anordnung der Sicherungshaft tragfähige tatsächliche Grundlage zu ermitteln (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - XIII ZB 47/20, juris Rn. 15).
cc) Die angeordnete Dauer der Haft war im vorliegenden Fall auch inhaltlich nicht zu beanstanden. Die Rückführung von Ausländern durch Sammelcharter kann dazu führen, dass die Sicherungshaft im Einzelfall länger dauert als bei einer Rückführung etwa im Rahmen eines Linienflugs. Ob und unter welchen Umständen dies im Widerspruch zu dem Gebot steht, die Sicherungshaft auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken (vgl. § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), bedarf hier keiner Entscheidung. Die Rückführung sollte nämlich während der Coronavirus-Pandemie erfolgen. Jedenfalls in einer solchen Sondersituation kann sich die für die Rückführung zuständige Behörde ermessensfehlerfrei für die Rückführung mit Sammelchartern entscheiden, schon um ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den mit dem Transport der abzuschiebenden Ausländer zu dem jeweiligen Flughafen befassten Bediensteten Rechnung zu tragen. Dies hat der Senat für den Schutz der bei Rückführung mit Sicherheitsbegleitung eingesetzten (Bundes-) Polizeibeamten entschieden (Beschluss vom 20. April 2021 - XIII ZB 85/20, juris Rn. 8 für den Fall der ausdrücklichen Erwähnung des Sammelcharters im Haftantrag). Für den Schutz der anderen mit dem Transport der Ausländer zu dem Flughafen befassten Bediensteten gilt nichts anderes.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Meier-Beck Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch ist infolge Versetzung an eine oberste Bundesbehörde an der Unterschrift gehindert.
Meier-Beck Kirchhoff Roloff Tolkmitt Vorinstanzen: AG Wuppertal, Entscheidung vom 27.10.2020 - 902 XIV(B) 19/20 LG Wuppertal, Entscheidung vom 13.11.2020 - 9 T 177/20 -