AK 50/19
BUNDESGERICHTSHOF AK 50/19 BESCHLUSS vom 18. September 2019 in dem Strafverfahren gegen wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.
ECLI:DE:BGH:2019:180919BAK50.19.0 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Angeschuldigten und seiner Verteidiger am 18. September 2019 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht München übertragen.
Gründe:
I.
Der Angeschuldigte wurde am 6. März 2019 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 7. März 2019 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom selben Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich in den Jahren 2006 bis 2012 als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung Taliban beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder § 239b StGB zu begehen, sowie durch dieselbe Handlung über Kriegswaffen die tatsächliche Gewalt ausgeübt, ohne dass der Erwerb der tatsächlichen Gewalt auf einer Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz beruht habe (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 52 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 6 KrWaffKG i.V.m. Teil B Nr. 29 Buchst. c der Anlage zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG).
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Anklageschrift vom 1. August 2019 wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Tatvorwurfs Anklage zum Oberlandesgericht München erhoben.
II.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die in Afghanistan operierenden Taliban haben sich - von radikalreligiösen Anschauungen geleitet - zum Ziel gesetzt, gewaltsam die aktuelle afghanische Regierung zu stürzen sowie alle ausländischen Streitkräfte vom Gebiet Afghanistans zu vertreiben und auf dem gesamten Staatsgebiet einen islamischen Staat unter Geltung der Scharia als einziger Rechtsgrundlage zu errichten; dabei nehmen sie zivile Opfer in Kauf.
Die Vereinigung ist streng hierarchisch organisiert. An ihrer Spitze steht der uneingeschränkte politisch-religiöse Führer, der gleichzeitig auch militärischer Befehlshaber ist. Dabei handelte es sich zunächst um Mullah Mohammad Omar Mudjahed, dessen Tod öffentlich im Jahr 2015 bekanntgegeben wurde. Sein Nachfolger Maulawi Akhtar Muhammad Mansur kam am 21. Mai 2016 bei einem amerikanischen Drohnenangriff im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan ums Leben. Derzeit ist Anführer der Organisation Maulawi Haibatallah Akhundzada, der von Sirajuddin Haqqani und Maulawi Muhammad Ya‘qub (Sohn des ersten Führers Mullah Omar) vertreten wird.
In die Entschlussfassungen der Führung maßgeblich eingebunden ist ein Schura-Rat. Er besteht aus den - etwa 22 - höchsten militärischen Kommandeuren und nicht-militärischen Vertretern, von denen einzelne für verschiedene Aufgaben wie "Politik", "Militär", "Finanzen", "Angelegenheiten der Gefangenen" oder "Öffentlichkeitsarbeit" verantwortlich sind. Dem Schura-Rat sind zudem zehn Kommissionen angegliedert, in denen über spezielle Themen beraten wird.
Die Taliban verfügen über eine Vielzahl von Kämpfern auf der untersten Hierarchieebene, die teilweise von lokalen Paschtunen-Stämmen organisiert sind und als Kampfverbände handeln. Für die Planung und Durchführung der militärischen Operationen, die Rekrutierung von Kämpfern und deren Ausbildung in Trainingslagern ist die Kommission für militärische Angelegenheiten zuständig, der die Militärführer aller afghanischen Provinzen angehören.
Zur Umsetzung ihrer Ziele begehen die Taliban - räumlich auf das Staatsgebiet von Afghanistan beschränkt - Selbstmordattentate, Minen- und Bombenanschläge, Entführungen, Geiselnahmen und gezielte Tötungen. Angriffsziele sind sowohl die ausländischen "Invasoren", insbesondere die früheren ISAF-Kräfte, als auch die politischen und religiösen Führer des afghanischen Staates, die afghanische Armee sowie die Polizei. Bei den Aktionen der Taliban, die über moderne Waffen und Kommunikationsmittel verfügen, kommt es häufig auch zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung, die von den Taliban zu Propagandazwecken genutzt werden.
Die Taliban finanzieren sich auf lokaler Ebene sowohl durch Spenden und Sachmittel der örtlichen Stammesstrukturen und religiösen Gemeinschaften als auch durch kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel, Schutzgelderpressungen und Entführungen. Auf überregionaler Ebene bildet neben Spenden aus dem In- und Ausland der Drogenhandel die Haupteinnahmequelle der Organisation.
bb) Der Angeschuldigte war in den Jahren 2006 bis 2012 in seinem afghanischen Heimatort und dessen Umgebung für die Taliban tätig und gliederte sich bewusst in diese ein.
Nachdem er im Jahr 2006 von Taliban geschlagen worden war, fühlte er sich zunächst gezwungen, für diese Verletzte zu versorgen und zu kämpfen. Er ordnete sich dem lokalen Kommandeur H.
unter,
förderte die Ziele der Organisation und stand auf Anweisung für verschiedene Aufgaben zur Verfügung. Hierfür erhielt er ein Motorrad und ein Funkgerät sowie ein Schnellfeuergewehr des Modells AK 47 (Kalaschnikow). Er leistete Sanitätsdienste, nahm an Kämpfen teil, filmte solche, patrouillierte bewaffnet als Repräsentant der Taliban an verschiedenen Orten und kundschaftete Militärposten sowie öffentliche Gebäude aus. Im Jahr 2012 verließ er Afghanistan und beantragte schließlich in Deutschland Asyl.
b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung "Taliban" aus den Erkenntnissen, die zu dieser Organisation in dem entsprechend bezeichneten Strukturband zusammengetragen sind, insbesondere aus einem wissenschaftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. M. und Auswerteberichten des Bundeskriminalamts.
Der Angeschuldigte hat das ihm zur Last gelegte Geschehen weitestgehend konstant bereits bei seiner Anhörung im Asylverfahren im Januar 2013, bei seiner Beschuldigtenvernehmung im März 2019 sowie am Tag darauf im Rahmen der Haftbefehlseröffnung gegenüber dem Ermittlungsrichter eingeräumt. Dass seine Angaben insbesondere bei der Anhörung im Asylverfahren und später als Beschuldigter nicht völlig deckungsgleich sind, ist angesichts des zeitlichen Abstands von über sechs Jahren, der unterschiedlichen Verfahrensgegenstände und der Übertragung durch einen Dolmetscher nachvollziehbar. Dies gilt etwa für den Umstand, dass er über Patrouillendienste in seiner ersten Anhörung nicht berichtet hat. Ein Widerspruch zwischen seinen Angaben ergibt sich hieraus nicht und ist auch sonst nicht ersichtlich. Eine fehlende Benennung weiterer Gruppenmitglieder spricht nicht gegen die Richtigkeit der sonstigen Angaben, zumal dies - wie in der Beschuldigtenvernehmung erklärt - auf Vergessen oder darauf beruhen kann, andere nicht belasten zu wollen. Auch wenn diese Gesichtspunkte ebenso wie die Motivlage des Angeschuldigten bei seinen Angaben im Asylverfahren im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu beachten sind, entwerten sie das Geständnis nicht grundlegend.
Dieses wird vielmehr durch verschiedene Beweismittel bestätigt. So hat der Angeschuldigte im Asylverfahren mehrere Fotos vorgelegt, die ihn zum einen bewaffnet, zum anderen zusammen mit dem von ihm als solchen bezeichneten lokalen Taliban-Anführer zeigen. Seine Angaben zu diesem werden durch ein Behördenzeugnis des Bundesnachrichtendienstes gestützt. Ferner hat die Zeugin R. bekundet, dass der Angeschuldigte ihr mitgeteilt habe, bei den Taliban gewesen zu sein.
Vor diesem Hintergrund wird der dringende Tatverdacht nicht dadurch entkräftet, dass ein Verteidiger des Angeschuldigten in einem Haftprüfungstermin erklärt hat, das Geständnis werde widerrufen. Die sich aus den Akten ergebenden Angaben des Angeschuldigten sind unter Berücksichtigung der Beweislage jedenfalls geeignet, einen dringenden Tatverdacht zu begründen. Eine abschließende Würdigung ist der Hauptverhandlung vorbehalten (vgl. entsprechend zu Zeugenaussagen BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - StB 21/19, juris Rn. 17 mwN).
Wegen weiterer Einzelheiten zur vorläufigen Bewertung der Beweisergebnisse wird auf den Haftbefehl des Oberlandesgerichts und die Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen.
c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit (zumindest) wegen einer Tat der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Tateinheit mit Ausüben der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 52 StGB; § 22a Abs. 1 Nr. 6 KrWaffKG i.V.m. Teil B Nr. 29 Buchst. c und Nr. 50 der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG).
Eine mitgliedschaftliche Beteiligung ergibt sich aus der Eingliederung in die Vereinigung der Taliban und die diversen Tätigkeiten für diese. Die Zwecke und die Tätigkeit der Taliban waren im Sinne eines dringenden Tatverdachts jedenfalls darauf gerichtet, Mord und Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Die nach § 129b Abs. 1 Sätze 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung liegt vor.
Zudem übte der Angeschuldigte im Zusammenhang mit seiner Beteiligung die tatsächliche Gewalt über eine Kriegswaffe, nämlich ein vollautomatisches Gewehr samt Munition, aus.
Seine Angaben dazu, er sei durch Schläge zu Arbeiten für die Taliban gezwungen worden, stehen nach den bislang bekannten Umständen weder der Verwirklichung der Straftatbestände entgegen, noch führen sie zu einem Entschuldigungs- oder Rechtfertigungsgrund im Sinne der §§ 34, 35 StGB (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 19. April 2018 - AK 18/18, juris Rn. 14). Da der Angeschuldigte seinen wiederholten Erklärungen nach nur einmal im Jahr 2006 geschlagen worden sein soll und er über konkrete weitere Drohungen nichts berichtet hat, sich die Tätigkeit für die Taliban indes über rund sechs Jahre erstreckte, ist nach dem derzeitigen Ermittlungsstand auszuschließen, dass er insgesamt nicht freiwillig oder deshalb handelte, um eine gegenwärtige Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Hierbei sind im Übrigen seine vielschichtigen Tätigkeiten und das Foto mit seinem lokalen Anführer zu berücksichtigen.
Deutsches Strafrecht ist nach gegenwärtigem Stand der Ermittlungen anwendbar. Dies ergibt sich für das Kriegswaffendelikt aus § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Ein Auslieferungsverkehr mit Afghanistan findet zurzeit nicht statt. Das Führen und Besitzen von Waffen ohne die dazu erforderliche Genehmigung ist nach afghanischem Recht mit Strafe bedroht (s. Art. 11 des afghanischen Gesetzes für leichte Gewehre, Munition und Sprengstoff von 2005; nunmehr Art. 529 ff. des afghanischen Strafgesetzbuches von 2017; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 19. April 2018 - AK 18/18, juris Rn. 23 mwN; vom 19. April 2017 - StB 9/17, NJ 2017, 337, 339). Hinsichtlich des Vereinigungsdelikts hielt sich der Angeschuldigte im Sinne des § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 4 StGB vor seiner Festnahme in Deutschland auf (vgl. näher BGH, Beschluss vom 19. April 2017 - StB 9/17, juris Rn. 26 mwN).
Für die Entscheidung über die Haftfortdauer bedarf es keiner abschließenden Klärung, ob der Angeschuldigte bei sämtlichen mitgliedschaftlichen Beteiligungshandlungen zugleich das Sturmgewehr führte oder ob dies nicht der Fall war und somit neben die bereits aufgezeigte Strafbarkeit in Tatmehrheit eine (weitere) mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland treten kann (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 11. Januar 2018 - AK 75-77/17, juris Rn. 27; vom 9. Juli 2015 - 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308, 311 f.). Insofern ist auch eine nähere Erörterung entbehrlich, ob der Angeschuldigte tatsächlich die Waffe entsprechend seinen Angaben für jeden Einsatz erhielt sowie danach wieder abgab und wie sich seine zwischenzeitliche Zugriffsmöglichkeit darauf gestaltete (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1997 - 3 StR 467/96, BGHR StGB § 25 Abs. 2 Mittäter 28).
2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) derjenige der Schwerkriminalität. Dem von der drohenden Freiheitsstrafe ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine erheblichen fluchthemmenden Umstände gegenüber. Der Angeschuldigte hat keine familiären Bindungen in Deutschland und keine Arbeitsstelle. Zwar machte er die Angaben zu den strafrechtlichen Vorwürfen von sich aus bereits vor Jahren im Asylverfahren, war sich grundsätzlich der Möglichkeit der Strafverfolgung bewusst und blieb gleichwohl vor Ort. Allerdings stehen ihm die etwaigen Auswirkungen einer Haftstrafe erst seit seiner Festnahme aufgrund der Inhaftierung und der Anklageerhebung konkret vor Augen. Insgesamt ist daher wahrscheinlicher, dass er sich - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird.
Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO erreicht werden.
3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer.
Neben der Vernehmung von Zeugen aus dem sozialen Umfeld des Angeschuldigten sind dessen Angaben zu dem lokalen Taliban-Kommandeur durch eine Behördenauskunft des Bundesnachrichtendienstes abgeklärt worden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat rund fünf Monate nach der Durchsuchung beim Angeschuldigten und dessen Festnahme zur Verfahrensbeschleunigung bereits Anklage erhoben, obschon eine Vielzahl von Datenträgern sichergestellt worden und diese noch nicht vollständig ausgewertet sind. Die Dauer der Datenauswertung begegnet angesichts des Umfangs von acht Mobiltelefonen, vier Laptops und vier USB-Sticks - zumal angesichts der nach erster Sichtung geringen Beweisbedeutung - keinen Bedenken. Die Zustellung der Anklageschrift und deren Übersetzung in die paschtunische Sprache ist bereits einen Tag nach Eingang der Akten beim Oberlandesgericht verfügt und eine Erklärungsfrist von zwei Wochen nach Zustellung der Übersetzung gesetzt worden. Insgesamt ist das Verfahren danach bislang mit der für eine Haftsache gebotenen Zügigkeit bearbeitet worden.
4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Gericke Spaniol Anstötz