VIa ZR 347/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 347/22 URTEIL in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2024:250924UVIAZR347.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 30. August 2024 eingereicht werden konnten, durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterin Möhring, die Richter Dr. Götz, Liepin und die Richterin Dr. Vogt-Beheim für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 18. Januar 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Tatbestand des Berufungsurteils auf Seite 2 zweiter Absatz wird von Amts wegen dahingehend berichtigt, dass der Kläger das Fahrzeug zu einem Kaufpreis in Höhe von 28.800 € und nicht in Höhe von 28.000 € erwarb (§ 319 Abs. 1 ZPO).
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 30.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch. Der Kläger erwarb im Juli 2014 von einem Dritten einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten VW Golf VII Variant 2.0, der mit einem Dieselmotor des Typs EA 288 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist.
Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises abzüglich einer durch das Gericht zu bemessenden Nutzungsentschädigung nebst Rechtshängigkeitszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs und auf Feststellung des Annahmeverzugs gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt er seine Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Voraussetzungen der allein in Betracht kommenden Anspruchsnorm - §§ 826, 831 BGB - seien nicht erfüllt. Der Kläger habe eine sittenwidrige Schädigung nicht schlüssig vorgetragen. Es fehle im Hinblick auf die erfolgte Überprüfung des EA 288 durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) an greifbaren Anhaltspunkten für die Behauptung des Klägers, sein Fahrzeug verfüge über eine oder gar mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen. Zwar sei die Existenz eines "Thermofensters" unstreitig. Nach den Angaben der Beklagten sei die Abgasrückführung innerhalb eines weiter gefassten Außentemperaturbereichs zu 100 % aktiv. Die Behauptung des Klägers, das "Thermofenster" sei deutlich enger, sei - nachdem das KBA keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt habe - unsubstantiiert. Konkrete Anhaltspunkte für ein solch eng gefasstes "Thermofenster" seien nicht ersichtlich. Überdies begründe die Implementierung eines "Thermofensters" alleine noch kein verwerfliches Verhalten der Beklagten. Unstreitig sei das streitgegenständliche Fahrzeug bei Erwerb zwar auch mit einer "Fahrkurve" ausgestattet gewesen, aus dem Vorbringen des Klägers ergebe sich jedoch nicht, dass es sich dabei um eine unzulässige Abschalteinrichtung handeln könnte.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die diesbezüglich von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen des unstreitig implementierten "Thermofensters" nicht in Betracht gezogen hat.
a) Wie der Senat nach Erlass des angegriffenen Urteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Dem Kläger kann indes nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form des "Thermofensters" getroffen.
b) Revisionsrechtlich ist zugunsten des Klägers zu unterstellen, dass die Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV erfüllt sind. Insbesondere scheitert ein Anspruch auf den Differenzschaden hinsichtlich des "Thermofensters" nicht daran, dass der klägerische Vortrag zu einem engeren "Thermofenster" als von der Beklagten behauptet als prozessual unbeachtliche Behauptung ins Blaue hinein zu bewerten ist.
aa) Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten. Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrundeliegenden Vorgängen hat. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat. Gemäß § 403 ZPO hat die Partei, die die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen will, die zu begutachtenden Punkte zu bezeichnen. Dagegen verlangt das Gesetz nicht, dass der Beweisführer sich auch darüber äußert, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in die Sachkenntnis des Sachverständigen gestellten Behauptung habe. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. Februar 2024 - VI ZR 526/20, WM 2024, 761 Rn. 11 bis 13 mwN).
bb) Nach diesen Grundsätzen ist der Vortrag des Klägers zum engeren "Thermofenster" nicht ins Blaue hinein gehalten.
(1) Der Kläger hat behauptet, innerhalb eines in der Motorsteuerungssoftware definierten Temperaturrahmens funktioniere die Abgasrückführung ohne Einschränkungen. Liege die Umgebungstemperatur über oder unter dem vordefinierten Temperaturrahmen, werde die Abgasrückführung reduziert und - abhängig von der Temperatur - sogar ganz ausgeschaltet. Dies geschehe - im realen Betrieb, also außerhalb des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) - bei den in Deutschland herrschenden Außentemperaturen, so dass die Abgasreinigung nur innerhalb eines engen Temperaturbereichs funktioniere. Außerhalb dieses "Thermofensters" würden die Grenzwerte für den Stickoxidausstoß überschritten.
(2) Weitergehender Vortrag zu den technischen Details und insbesondere dem exakten Temperaturbereich des "Thermofensters" kann nicht verlangt werden, sofern es auf das (bloße, objektive) Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ankommt und - wie hier - zwischen den Parteien lediglich streitig ist, bei welchen Umgebungstemperaturen die Abgasrückführung reduziert und deaktiviert wird, es mithin nur noch um die technischen Einzelheiten einer Funktion geht, deren Existenz zwischen den Parteien ebenso unstreitig ist wie die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems. Daran ändert eine abweichende rechtliche Bewertung des KBA nichts (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2022 - VIII ZR 140/20, VersR 2022, 703 Rn. 34).
III.
Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht wird insbesondere auf der Grundlage der mit Urteil des Senats vom 26. Juni 2023 in der Sache VIa ZR 335/21 aufgestellten Grundsätze die erforderlichen Feststellungen zu einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben, nachdem es dem Kläger Gelegenheit gegeben hat, den Differenzschaden zu berechnen und dazu vorzutragen.
C. Fischer Liepin Möhring Götz Vogt-Beheim Vorinstanzen: LG Bielefeld, Entscheidung vom 03.09.2020 - 8 O 13/20 OLG Hamm, Entscheidung vom 18.01.2022 - I-4 U 156/20 - Verkündet am: 25. September 2024 Bachmann, Justizfachangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle