X ZR 58/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES X ZR 58/22 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 28. Januar 2025 Wieseler Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2025:280125UXZR58.22.0 Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs. 2 ZPO mit Schriftsatzfrist bis 2. Januar 2025 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Bacher, die Richter Hoffmann und Dr. Deichfuß und die Richterinnen Dr. Marx und Dr. von Pückler für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 24. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 28. April 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger beansprucht aus abgetretenem Recht die Rückzahlung einer Anzahlung für eine Pauschalreise.
Die Zedentin buchte am 25. September 2019 bei der Beklagten für sich, den Kläger und zwei weitere Mitreisende eine Pauschalreise "Wolga-Wunder & Zarenzauber 2020", die vom 16. bis 26. Mai 2020 stattfinden und insgesamt 4.972 Euro kosten sollte. Die Zedentin leistete eine Anzahlung in Höhe von 325 Euro.
Mit Verordnung vom 16. März 2020 ist die Einreise ausländischer Staatsangehöriger in die Russische Föderation vom 18. März 2020 bis 1. Mai 2020 untersagt worden. Das Auswärtige Amt veröffentlichte am 17. März 2020 eine zunächst bis 30. April 2020 befristete weltweite Reisewarnung.
Mit Schreiben vom 17. März 2020 erklärte die Zedentin für die Reisegruppe den Rücktritt von der Reise. Am 29. Juni 2020 rechnete die Beklagte gegenüber der Zedentin unter Anrechnung der Anzahlung eine Stornierungsgebühr in Höhe von 1.243 Euro ab.
Die Reise fand nicht statt. Die Zedentin trat ihre Ansprüche aus dem Reisevertrag an den Kläger ab. Dessen Begehren nach Erstattung der geleisteten Anzahlung kam die Beklagte nicht nach.
Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Rückzahlung der Anzahlung und Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen, soweit sie auf Erstattung von Anwaltskosten gerichtet ist, aber die weitergehende Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die vollständige Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit im Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der Kläger könne die Rückzahlung der Anzahlung aus abgetretenem Recht verlangen. Die Beklagte könne dagegen nicht mit einem Anspruch auf Entschädigung aufrechnen, da die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB erfüllt seien.
Die Corona-Pandemie habe im Frühjahr 2020 zu einer nahezu weltweiten Abschottung und zur Annullierung sämtlicher internationaler Flüge geführt und stelle einen unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB dar.
Die Zedentin schulde gemäß § 651h Abs. 3 BGB keine Entschädigungsleistung. Dies gelte unabhängig davon, ob im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung nach einer ex-ante-Betrachtung bereits hinreichende Anhaltspunkte bestanden hätten, dass die vom Reiseveranstalter geplante Reise infolge der Corona-Pandemie nicht stattfinden kann. Eine ex-ante-Betrachtung sei jedenfalls dann nicht maßgeblich, wenn der Reiseveranstalter die Reise vor deren Beginn selbst aufgrund eines unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstandes abgesagt habe.
Dass die Zedentin aufgrund des außergewöhnlichen Umstandes zurückgetreten sei und die Reise nicht stattgefunden habe, sei unstreitig. Ein dahingehendes Bestreiten der Beklagten in der Berufungsbegründung sei nach § 529 und § 531 ZPO nicht zu berücksichtigen.
II. Dies hält der revisionsrechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
1. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil die Zedentin nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam vom Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung der Anzahlung verpflichtet.
2. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB, den die Beklagte dem Anspruch des Klägers entgegenhalten könnte, nicht ausgeschlossen werden.
a) Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass die Covid-19-Pandemie im vorgesehenen Reisezeitraum einen unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB darstellt.
Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist es in der Regel nicht zu beanstanden, dass ein Tatrichter die Covid-19-Pandemie als Umstand wertet, der grundsätzlich geeignet ist, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BGH, Urteil vom 28. März 2023 - X ZR 78/22, NJW-RR 2023, 828 = RRa 2023, 118 Rn. 21; Urteil vom 14. November 2023 - X ZR 115/22, NJW-RR 2024, 193 Rn. 18; Urteil vom 23. Januar 2024 - X ZR 4/23, NJW-RR 2024, 466 Rn. 17; Urteil vom 23. April 2024 - X ZR 58/23 Rn. 21). Dies steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Juni 2023 - C-407/21, RRa 2023, 183 Rn. 45 - UFC; Urteil vom 29. Februar 2024 - C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 48 - Kiwi Tours) und gilt auch für den im Streitfall maßgeblichen Reisezeitraum im Mai 2020.
b) Entgegen der Auffassung der Revision steht der Beklagten auch nicht schon dann ein Entschädigungsanspruch zu, wenn sich die Zedentin bei der Abgabe der Rücktrittserklärung nicht ausdrücklich auf außergewöhnliche Umstände berufen hat.
aa) Nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB hängt der Ausschluss des Entschädigungsanspruchs allein davon ab, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Reise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.
Ein zusätzliches Erfordernis, dass der Reisende seine Rücktrittserklärung ausdrücklich oder konkludent auf solche Umstände stützt, sieht die Vorschrift nicht vor.
bb) Nach § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB hängt die Beurteilung, ob Umstände unvermeidbar und außergewöhnlich sind, unter anderem davon ab, dass sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich hierauf beruft.
Auch diese Vorschrift knüpft nicht daran an, dass sich eine Partei bereits im Zeitpunkt des Rücktritts auf solche Umstände beruft.
cc) Aus der Richtlinie (EU) 2015/2302 ergibt sich nichts anderes.
Wie der Senat bereits entschieden hat, hängt die in Art. 12 Abs. 2 vorgesehene Rechtsfolge - der Wegfall des Anspruchs auf Zahlung einer Rücktrittsgebühr - nicht davon ab, auf welche Gründe der Reisende den Rücktritt gestützt hat. Maßgeblich ist allein, ob tatsächlich Umstände vorliegen, die die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen (BGH, Beschluss vom 2. August 2022 - X ZR 53/21, MDR 2022, 1334 = RRa 2022, 278 Rn. 43).
dd) Entgegen der Auffassung der Revision ergibt sich eine abweichende Beurteilung im Streitfall auch nicht aus dem erstinstanzlichen Einwand der Beklagten, der Zedentin seien im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung keine konkreten Tatsachen über die Corona-Situation vor Ort in Russland bekannt gewesen.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind nicht die konkreten Kenntnisse des vom Vertrag zurücktretenden Reisenden, sondern die Erkenntnismöglichkeiten aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zum Rücktrittszeitpunkt maßgeblich (EuGH, Urteile vom 29. Februar 2024 - C-299/22, RRa 2024, 186 Rn. 72 - Tez Tour; C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 32 - Kiwi Tours).
c) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts darf eine erhebliche Beeinträchtigung im Streitfall jedoch nicht schon deshalb bejaht werden, weil die Reise nach der Rücktrittserklärung abgesagt bzw. nicht durchgeführt worden ist.
Nach der auf Vorlage des Senats ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten sind, die im Sinne dieser Bestimmung die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen, nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist (EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 - C-584/22, RRa 2024, 62 Rn. 28 ff. - Kiwi Tours).
III. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Das Berufungsgericht hat sich - von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig - nicht mit der vom Rücktrittszeitpunkt ausgehenden Prognoseentscheidung des Amtsgerichts auseinandergesetzt und keine Feststellungen dazu getroffen, inwieweit bereits zum Zeitpunkt des Rücktritts der Zedentin konkrete Umstände absehbar waren, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Reise nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB begründen.
Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen treffen kann.
Hierbei wird das Berufungsgericht insbesondere auch zu berücksichtigen haben, dass eine im Zeitpunkt des Rücktritts begründete Ungewissheit über die weitere Entwicklung ein starkes Indiz dafür bilden kann, dass die Durchführung der Reise schon aus damaliger Sicht nicht zumutbar war. Hierbei sind gegebenenfalls auch individuelle Gesundheitsrisiken zu berücksichtigen, denen die Reisenden bei Durchführung der Reise ausgesetzt wären (BGH, Urteil vom 30. August 2022 - X ZR 66/21, NJW 2022, 3707 = RRa 2022, 283 Rn. 62 ff.; Urteil vom 23. Januar 2024 - X ZR 4/23, NJW-RR 2024, 466 Rn. 31 ff.). Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, kommt einem Einreiseverbot für das Zielland auch dann erhebliche Bedeutung zu, wenn es befristet ist und das Ende der Frist vor dem geplanten Reisebeginn liegt; dem Reisenden ist auch nicht ohne weiteres zuzumuten, mit einer Entscheidung über den Rücktritt bis kurz vor Reisebeginn zuzuwarten (BGH, Urteil vom 15. Oktober 2024 - X ZR 79/22, MDR 2024, 1570 Rn. 43 ff.).
Entgegen der Auffassung der Revision wird es nicht zwingend des Vortrags belastbarer Tatsachen bedürfen, aufgrund derer im Rücktrittszeitpunkt am Bestimmungsort der Reise mit einer höheren Ansteckungsgefahr als am Heimatort zu rechnen war. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist § 651h Abs. 3 BGB auch dann anwendbar, wenn dieselben oder vergleichbare Beeinträchtigungen im vorgesehenen Reisezeitraum auch am Heimatort des Reisenden vorliegen (BGH, Beschluss vom 30. August 2022 - X ZR 3/22 Rn. 22).
Bacher Hoffmann Deichfuß Marx von Pückler Vorinstanzen: AG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 30.09.2021 - 380 C 33/21 (14) LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 28.04.2022 - 2-24 S 199/21 -