VIa ZB 3/22
BUNDESGERICHTSHOF VIa ZB 3/22 BESCHLUSS vom 20. Juni 2022 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2022:200622BVIAZB3.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Juni 2022 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Menges als Vorsitzende, die Richterin Dr. Krüger, die Richter Dr. Götz, Dr. Rensen und Liepin beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 5. Januar 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Gegenstandswert beträgt bis 50.000 €.
Gründe: I.
Der Kläger wendet sich gegen die Verwerfung seiner Berufung. 2 Er erwarb im Jahr 2016 einen von der Beklagten hergestellten Mercedes- Benz V 250 für 66.499,58 €. Unter Behauptung verschiedener Abschalteinrichtungen hat der Kläger erstinstanzlich die Zahlung von 49.621,27 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten und die Erstattung von Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung verlangt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2021 begründet, ohne ausdrücklich zu erklären, inwieweit das Urteil des Landgerichts angefochten und welche Abänderung des Urteils beantragt werden solle. Das Berufungsgericht hat die Berufung verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Senats (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), denn der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. mit dem Rechtsstaatsprinzip).
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung ist die Rechtsbeschwerde nicht deshalb unzulässig, weil der Kläger es in der Vorinstanz versäumt hätte, eine Korrektur der Grundrechtsverletzung zu erwirken (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2021 - VI ZB 30/19, NJW-RR 2021, 1507 Rn. 11 ff. mwN). Das Gegenteil trifft zu. In seiner Stellungnahme auf den Hinweis des Berufungsgerichts auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung hat der Kläger ausgeführt, die vorzunehmende Auslegung seiner Berufungsbegründung ergebe "vollkommen eindeutig", dass er sein erstinstanzliches Begehren unverändert weiterverfolge, das vollständig klageabweisende Urteil des Landgerichts also insgesamt zur Überprüfung durch das Berufungsgericht stelle. Dabei hat der Kläger beispielhaft ("vgl. nur") auf die Vorbemerkungen unter Lit. A der Berufungsbegründung Bezug genommen. Weiteren Vortrags bedurfte es nach den Umständen des Streitfalls insoweit nicht.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen.
a) Nach Auffassung des Berufungsgerichts fehlt die nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO erforderliche Erklärung, inwieweit das erstinstanzliche Urteil angefochten werde und welche Abänderungen des Urteils beantragt würden (Berufungsanträge). Dies habe die Unzulässigkeit der Berufung zur Folge. Einen förmlichen Sachantrag habe der Kläger nicht formuliert. Aus seinen Schriftsätzen ergebe sich auch nicht eindeutig, in welchem Umfang und mit welchem Ziel das Urteil angefochten werden solle. Die Berufungsbegründung setze sich zwar inhaltlich damit auseinander, dass das Landgericht Ansprüche verneint habe. Anhaltspunkte für den Umfang der Urteilsanfechtung ließen sich dem indes nicht eindeutig entnehmen. So sei der Berufungsbegründung nicht eindeutig zu entnehmen, dass der Kläger seine erstinstanzlich verfolgten Ansprüche vollumfänglich weiterverfolge oder die Ansprüche, derer er sich in der Berufungsbegründung berühme, uneingeschränkt mit denjenigen der erstinstanzlichen Geltendmachung übereinstimmten.
b) Mit diesen Erwägungen lässt sich die Annahme des Berufungsgerichts, die Berufungsbegründung enthalte keine Berufungsanträge, nicht begründen. Tatsächlich konnte bei der gebotenen Auslegung der Berufungsbegründung nicht zweifelhaft sein, dass der Kläger sein erstinstanzliches Begehren weiterverfolgen und das klageabweisende Urteil des Landgerichts insgesamt anfechten wollte.
aa) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO muss die Berufungsbegründung die Erklärung enthalten, inwieweit das Urteil angefochten wird und welche Abänderungen des Urteils beantragt werden (Berufungsanträge). Für diese Erklärung bedarf es nicht der Stellung eines als solchen bezeichneten Antrags. Es reicht aus, wenn die Berufungsbegründung den Schluss auf die Weiterverfolgung des erstinstanzlichen Begehrens zulässt (BGH, Beschluss vom 26. Juni 2019 - VII ZB 61/18, NJW-RR 2019, 1022 Rn. 9; Beschluss vom 20. August 2019 - VIII ZB 29/19, NJW-RR 2019, 1293 Rn. 14; Beschluss vom 12. August 2020 - VII ZB 5/20, NJW-RR 2020, 1188 Rn. 17). Bei der Beurteilung ist im Grundsatz davon auszugehen, dass eine Berufung im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung gerichtet ist, diese also insoweit angreift, als der Berufungskläger durch sie beschwert ist (BGH, Beschluss vom 26. Juni 2019, aaO; Beschluss vom 12. August 2020, aaO).
bb) Die Auslegung der Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 31. Oktober 2021, die der Senat selbst vornehmen kann (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 1. August 2013 - VII ZR 268/11, NJW 2014, 155 Rn. 30; Versäumnisurteil vom 6. Juni 2019 - III ZR 83/18, juris Rn. 8; Beschluss vom 12. August 2020 - VII ZB 5/20, NJW-RR 2020, 1188 Rn. 18), ergibt unter Berücksichtigung der genannten Maßstäbe, dass der Kläger das Urteil des Landgerichts insgesamt zur Überprüfung durch das Berufungsgericht gestellt hat. Zwar enthält die Berufungsbegründung keine Anträge. Indes wiederholt und vertieft der 40 Seiten lange Schriftsatz umfassend erstinstanzlichen Vortrag des Klägers und gibt deutlich zu erkennen, dass dieser an der Auffassung, seine erstinstanzlich erhobenen Ansprüche seien vollumfänglich begründet, ohne Einschränkung festhält. Das lässt sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nur dahin verstehen, dass der Kläger mit seiner Berufung das klageabweisende Urteil des Landgerichts insgesamt angegriffen und die erstinstanzlich gestellten Anträge unverändert weiterverfolgt hat. Nur diese Auslegung wird dem Grundsatz gerecht, dass eine Berufung im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung gerichtet ist, diese also insoweit angreift, als der Berufungskläger durch sie beschwert ist. Anhaltspunkte für ein abweichendes Verständnis sind weder festgestellt noch werden sie von der Rechtsbeschwerdeerwiderung aufgezeigt. Insbesondere bedurfte es entgegen deren Auffassung zur Ermittlung der Berufungsanträge keiner Angaben zur aktuellen Laufleistung des Fahrzeugs. Mangels anderslautender Hinweise in der Berufungsbegründung bestanden keine Zweifel daran, dass der Kläger ungeachtet einer weiteren Nutzung des Fahrzeugs den bisherigen Zahlungsantrag weiterverfolgen wollte.
Die vorstehenden Erwägungen gelten auch für die Anträge auf Feststellung des Annahmeverzugs und auf Zahlung vorprozessualer Rechtsanwaltskosten, weil das Landgericht deren Abweisung ausschließlich mit dem Nichtbestehen der Hauptforderung begründet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2022 - VIa ZB 4/21, NJW-RR 2022, 642 Rn. 16 mwN).
3. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da die Entscheidung sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 577 Abs. 3 ZPO. Insbesondere genügt der Schriftsatz des Klägers vom 31. Oktober 2021 den an eine Berufungsbegründung gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO inhaltlich zu stellenden Anforderungen (dazu zuletzt BGH, Beschluss vom 21. März 2022 - VIa ZB 4/21, NJW-RR 2022, 642 Rn. 7 mwN), wie die Rechtsbeschwerdebegründung zutreffend hervorhebt und wogegen die Rechtsbeschwerdeerwiderung zu Recht keine Bedenken erhebt. Ob und inwieweit die Berufung des Klägers mit der gegebenen Begründung in der Sache Erfolg haben kann, ist keine Frage der Zulässigkeit der Berufung, sondern ihrer Begründetheit.
Menges Krüger Götz Rensen Liepin Vorinstanzen: LG Münster, Entscheidung vom 17.06.2021 - 2 O 10/21 OLG Hamm, Entscheidung vom 05.01.2022 - I-12 U 155/21 -