V ZB 38/24
BUNDESGERICHTSHOF V ZB 38/24 BESCHLUSS vom 16. Januar 2025 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2025:160125BVZB38.24.0 Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. Januar 2025 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Brückner, den Richter Dr. Göbel und die Richterinnen Haberkamp, Laube und Dr. Grau beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 24. Juli 2024 wird auf Kosten der Beklagten als unzulässig verworfen.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 232 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Mit einem am 29. Mai 2024 zugestellten amtsgerichtlichen Urteil wurde die Beklagte zur Zahlung von Wohngeld verurteilt. Unter dem 17. Juni 2024 richtete sie ein mit „Antrag auf Wiedereinsetzung der Berufungsfrist“ bezeichnetes Schreiben an das Amtsgericht und führte darin aus, dass sie bis zum 10. Juni 2024 ortsabwesend gewesen sei, sodass die Berufungsfrist einen Monat seit dem 11. Juni 2024 betrage. Mit Verfügung vom 26. Juni 2024 wies das Amtsgericht darauf hin, dass die Berufung bei dem Landgericht einzulegen und die Berufungsfrist noch nicht abgelaufen sei; vorsorglich werde die Akte dem Landgericht vorgelegt und im Übrigen auf die in der Rechtsbehelfsbelehrung aufgeführten Voraussetzungen einer form- und fristgerechten Berufung verwiesen. Unter dem 8. Juli 2024 wies das Landgericht darauf hin, dass die Berufung nicht durch einen Rechtsanwalt und damit nicht formgerecht eingelegt sei. Mit Schreiben vom 19. Juli 2024 erklärte die Beklagte, dass sie keine Berufung an das Gericht gesendet habe.
Mit Beschluss vom 24. Juli 2024 hat das Landgericht die Berufung als unzulässig verworfen und gemeint, aus dem Schreiben der Beklagten vom 17. Juni 2024 ergebe sich, dass sie sich gegen ihre Verurteilung wehren wolle; anderenfalls ergäben die Ausführungen zur Verlängerung der Berufungsfrist keinen Sinn. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg; deshalb scheidet auch eine Gewährung von Prozesskostenhilfe aus (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Denn die Rechtsbeschwerde ist zwar nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO unabhängig davon, ob das Berufungsgericht zu Recht von der Einlegung einer Berufung ausgegangen ist, statthaft (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 - VI ZB 64/19, NJW-RR 2020, 762 Rn. 3). Sie ist aber unzulässig, weil die besonderen Zulassungsvoraussetzungen gemäß § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Insbesondere ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) erforderlich.
1. So liegt, anders als die Rechtsbeschwerde meint, kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot vor. Das ist nur der Fall, wenn die angegriffene Entscheidung - und hier: die Auslegung des Schreibens der Beklagten vom 17. Juni 2024 - unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. nur Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZB 159/09, NJW-RR 2010, 784 Rn. 7 mwN). Richtig ist im Ausgangspunkt, dass Prozesserklärungen auszulegen sind; im Zweifel ist das gewollt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (vgl. Senat, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, NJW 2003, 2388). Es ist aber schon nicht ersichtlich, dass das Berufungsgericht dies rechtsfehlerhaft verkannt hätte, als es das - nicht eindeutige - Schreiben der Beklagten vom 17. Juni 2024 in den Blick genommen und als Berufungsschrift gewürdigt hat. Jedenfalls ist es nicht schlechthin unvertretbar, die Erklärung der Beklagten vom 17. Juni 2024 als Berufung auszulegen. Dass diese Auslegung willkürlich ist bzw. auf sachfremden Erwägungen beruht, lässt sich weder dem angegriffenen Beschluss entnehmen noch wird es von der Rechtsbeschwerde näher ausgeführt. Darauf, ob der Senat - der die Auslegung der Prozesserklärung, wäre die Rechtsbeschwerde zulässig, uneingeschränkt nachprüfen könnte (vgl. Senat, Beschluss vom 30. April 2003 - V ZB 71/02, aaO; BGH, Beschluss vom 7. März 2012 - XII ZB 421/11, NJW-RR 2012, 755 Rn. 12) - diese Einschätzung teilt, kommt es nicht an.
2. Ein Eingreifen des Bundesgerichtshofs zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch nicht deshalb erforderlich, weil dem Berufungsgericht bei der Anwendung von Rechtsnormen Fehler unterlaufen wären, deren Wiederholung zu befürchten stünde (vgl. Senat, Beschluss vom 27. März 2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154,
288, 296). Nähere Darlegungen zu dieser sogenannten strukturellen Wiederholungsgefahr finden sich in der Rechtsbeschwerde nicht; sie ergibt sich auch nicht unabhängig davon aus der rechtlichen Begründung des angefochtenen Beschlusses (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2018 - XII ZB 641/17, NJW-RR 2019, 1 Rn. 27). Vielmehr ist die Begründung der Verwerfung von den besonderen Umständen des Einzelfalls geprägt und kann nicht verallgemeinert werden.
III.
1. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
2. Der Gegenstandswert ist entsprechend dem Interesse der Beklagten festzusetzen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 GKG). Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass sich die Beklagte nicht gegen ihre Verurteilung in der Hauptsache wendet, sondern den Verwerfungsbeschluss mangels Einlegung einer Berufung für wirkungslos hält (zur Wirkungslosigkeit einer trotz fehlender Rechtshängigkeit ergangenen Entscheidung BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - II ZB 2/05,
NJW-RR 2006, 565 Rn. 11 f.; zur Entscheidung über eine Beschwerde trotz Rücknahme MüKoZPO/Hamdorf, 6. Aufl., § 569 Rn. 23) und nicht mit den aus der Verwerfungsentscheidung folgenden Kosten belastet werden möchte.
Brückner Laube Göbel Grau Haberkamp Vorinstanzen:
AG Aachen, Entscheidung vom 27.05.2024 - 118 C 5/24 LG Köln, Entscheidung vom 24.07.2024 - 29 S 82/24 -