StB 15/25
BUNDESGERICHTSHOF StB 15/25 BESCHLUSS vom 30. April 2025 in dem Strafverfahren gegen wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland hier: sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Ablehnung der Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers ECLI:DE:BGH:2025:300425BSTB15.25.0 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Verteidiger des Angeklagten am 30. April 2025 gemäß § 144 Abs. 1, § 142 Abs. 7 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 311 StPO beschlossen:
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Vorsitzenden des 1. Strafsenats des Kammergerichts vom 2. April 2025 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
I. 1 1. Vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts ist ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer und drei Mitangeklagte wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB anhängig. Der Generalbundesanwalt legt den vier Angeklagten mit der Anklageschrift vom 8. November 2024 im Wesentlichen zur Last, sich in Deutschland als sogenannte Auslandsoperateure der primär im palästinensischen Gazastreifen agierenden islamistischen HAMAS an der Suche nach einem versteckten Waffendepot in Polen beteiligt und damit als Mitglieder dieser militant-extremistischen Vereinigung an deren Aktivitäten mitgewirkt zu haben (vgl. insofern BGH, Beschlüsse vom
4. September 2024 – AK 71/24, juris Rn. 8 ff.; vom 26. Juni 2024 – AK 53-55/24, juris Rn. 8 ff.; vom 30. April 2024 – StB 25/24, Rn. 8 ff.; vom 10. April 2024 – StB 20/24, Rn. 8 ff.). Die Hauptverhandlung hat am 25. Februar 2025 begonnen; es sind 64 Hauptverhandlungstermine bis zum 17. Dezember 2025 geplant.
2. Dem in Untersuchungshaft befindlichen Beschwerdeführer ist im Dezember 2023 ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden, der weiterhin als solcher im Verfahren tätig ist und an den bisherigen Hauptverhandlungsterminen teilgenommen hat. Mit Beschluss vom 22. Januar 2025 (1 St 2/24) hat die Vorsitzende des 1. Strafsenats des Kammergerichts einen Antrag des Angeklagten abgelehnt, ihm gemäß § 144 Abs. 1 StPO einen zweiten Pflichtverteidiger beizuordnen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat der Senat verworfen (BGH, Beschluss vom 19. Februar 2025 – StB 4-6/25, juris). Eine gegen die Beschwerdeverwerfung erhobene Gegenvorstellung hat der Senat zurückgewiesen (BGH, Beschluss vom 20. März 2025 – StB 4-6/25, juris).
3. Mit Beschluss vom 2. April 2025 (1 St 2/24) hat die Vorsitzende des 1. Strafsenats des Kammergerichts einen erneuten Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers gleichfalls abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner sofortigen Beschwerde vom 9. April 2025. Der Generalbundesanwalt hat mit Zuschrift an den Senat vom 10. April 2025 beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthaft (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. März 2024 – StB 17/24, juris Rn. 7; vom 24. März 2022 – StB 5/22, juris Rn. 7; vom 31. August 2020 – StB 23/20, NJW 2020, 3736 Rn. 7) und auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO).
Insbesondere lässt sich im Gesamtzusammenhang der Beschwerdeschrift des Pflichtverteidigers des Angeklagten hinreichend entnehmen, dass das Rechtsmittel für den – allein beschwerdeberechtigten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. März 2024 – StB 17/24, juris Rn. 7; vom 24. März 2022 – StB 5/22, juris Rn. 9; vom 31. August 2020 – StB 23/20, NJW 2020, 3736 Rn. 7, 9) – Angeklagten eingelegt worden ist. Als eigene Beschwerde eines bereits bestellten Pflichtverteidigers wäre ein Rechtsmittel nicht statthaft, weil die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers allein der Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens dient, nicht aber zugleich im Eigeninteresse des schon tätigen Pflichtverteidigers – etwa zur Reduzierung der mit seiner Tätigkeit verbundenen Arbeitsbelastung – erfolgt, so dass dieser durch das Unterbleiben der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers nicht im rechtlichen Sinne beschwert ist (vgl. insofern BGH, Beschlüsse vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 7; vom 24. März 2022 – StB 5/22, juris Rn. 8). Jedoch kann ein Verteidiger gemäß § 297 StPO Rechtsmittel für einen Beschuldigten im eigenen Namen einlegen; für ein solches Verständnis eines vom Verteidiger eingelegten Rechtsmittels streitet eine Regelvermutung (BGH, Beschlüsse vom 24. März 2022 – StB 5/22, juris Rn. 8; vom 6. Juli 2016 – 4 StR 149/16, BGHSt 61, 218 Rn. 7).
III.
Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet. Die Entscheidung der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO zuständigen Vorsitzenden des 1. Strafsenats des Kammergerichts, auch den erneuten Antrag des Beschwerdeführers auf Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers abzulehnen, hält – wie bereits die erste Ablehnungsentscheidung vom 22. Januar 2025 – der Überprüfung stand.
1. Zum Prüfungsmaßstab und zu den Voraussetzungen für die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers gilt:
a) Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch das erkennende Gericht keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2024 – StB 47/24, NStZ-RR 2024, 354, 355; vom 19. März 2024 – StB 17/24, NStZ 2024, 502 Rn. 10; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 8, 13; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 18; vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 17 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 144 Rn. 12).
b) Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“. Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines weiteren Verteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschlüsse vom 19. März 2024 – StB 17/24, NStZ 2024, 502 Rn. 11; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 10; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 13; vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).
Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten (BGH, Beschlüsse vom 21. August 2024 – StB 47/24, NStZ-RR 2024, 354, 355; vom 19. März 2024 – StB 17/24, NStZ 2024, 502 Rn. 12).
Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. August 2024 – StB 47/24, NStZ-RR 2024, 354, 355; vom 19. März 2024 – StB 17/24, NStZ 2024, 502 Rn. 13; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 12; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 16; vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).
2. Hieran gemessen ist die Annahme der Vorsitzenden des mit der Sache befassten 1. Strafsenats des Kammergerichts vertretbar, die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers gemäß § 144 Abs. 1 StPO lägen weiterhin nicht vor. Mit dieser Beurteilung hat sie – wie bereits bei ihrer vorangegangenen Entscheidung vom 22. Januar 2025 – die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums noch nicht überschritten.
a) Die Vorsitzende des Strafsenats hat annehmen dürfen, die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers sei nicht wegen besonderen Umfangs des Verfahrens erforderlich. Der Senat nimmt insofern zunächst Bezug auf seine Darlegungen im Beschluss vom 19. Februar 2025 (BGH, Beschluss vom 19. Februar 2025 – StB 4-6/25, juris Rn. 12).
Die Anordnung eines größeren Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 StPO im Nachgang zur vorgenannten Senatsentscheidung gebietet – entgegen dem Beschwerdevorbringen – keine abweichende Neubewertung. Denn die betreffenden Urkunden sind seit längerem Bestandteil der Verfahrensakten und vom Verteidiger ohnehin im Rahmen der gebotenen Verteidigungstätigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Es ist nicht ersichtlich, dass aus der Einführung der Urkunden im Selbstleseverfahren – an Stelle einer Verlesung in der Hauptverhandlung – ein signifikant erhöhter Besprechungsaufwand für den Verteidiger mit dem Angeklagten resultieren könnte.
b) Ein zweiter Pflichtverteidiger für den Beschwerdeführer ist auch nicht wegen besonderer rechtlicher Komplexität des Verfahrens geboten. Die Vorsitzende des 1. Strafsenats des Kammergerichts hat an ihrer Einschätzung festgehalten, die relevanten Rechtsfragen seien nicht von solcher Schwierigkeit, dass ihre alleinige Durchdringung den bestellten Pflichtverteidigern nicht möglich oder nicht zumutbar wäre. Diese Beurteilung erweist sich gleichfalls weiterhin als rechtlich tragfähig. Der Senat verweist auch insofern auf seine Ausführungen im Beschluss vom 19. Februar 2025 (BGH, Beschluss vom 19. Februar 2025 – StB 4-6/25, juris Rn. 13 f.).
Die Anordnung und Durchführung eines Selbstleseverfahrens wirft entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers keine schwierigen Rechtsfragen auf, zumal insofern sowie zur vorliegend inmitten stehenden Frage der Zulässigkeit eines vernehmungsersetzenden beziehungsweise vernehmungsergänzenden Urkundenbeweises umfangreiche höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt und es sich bei dem bereits bestellten Verteidiger um einen erfahrenen Fachanwalt für Strafrecht handelt, der mit Staatsschutzprozessen, in denen Selbstleseverfahren zum Alltag gehören, in besonderem Maße vertraut ist.
c) Weiter ist angesichts des beschränkten Kontrollmaßstabs des Beschwerdegerichts nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende des 1. Strafsenats des Kammergerichts die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers nach wie vor nicht als zur Verfahrenssicherung erforderlich erachtet hat.
Zwar kann im Fall voraussichtlich besonders lang dauernder Hauptverhandlungen die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers angezeigt sein, weil mit der Verfahrensdauer das Risiko eines längerfristigen Ausfalls des Verteidigers und damit der Notwendigkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung steigt. In Fällen einer absehbar außergewöhnlich langen Hauptverhandlung rechtfertigt sich die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung aus der Erfahrung, dass sich bei einer derartigen Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger könnte durch Erkrankung für einen längeren Zeitraum als durch Unterbrechungen nach § 229 StPO überbrückbar ausfallen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 23; vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 23). Indes hat die Senatsvorsitzende dieses Risiko weiterhin für überschaubar erachten dürfen. Denn die bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren Ausfalls des Pflichtverteidigers gibt – außer im (hier jedoch nicht gegebenen) Fall einer voraussichtlich ganz besonders langen Hauptverhandlung – regelmäßig keinen Anlass zur Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (BGH, Beschlüsse vom 19. März 2024 – StB 17/24, NStZ 2024, 502 Rn. 15; vom
24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 24; vom 21. April 2021 – StB 17/21, NJW 2021, 1894 Rn. 9).
3. Ergänzend nimmt der Senat Bezug auf die weiteren Darlegungen in seiner Entscheidung vom 19. Februar 2025 (BGH, Beschluss vom 19. Februar 2025 – StB 4-6/25, juris Rn. 18 ff.).
4. Nach alledem ist auch die neuerliche sofortige Beschwerde des Angeklagten mit der Kostenfolge des § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO als unbegründet zu verwerfen.
Schäfer Anstötz Kreicker