AK 37/20
BUNDESGERICHTSHOF AK 37/20 BESCHLUSS vom 3. Dezember 2020 in dem Strafverfahren gegen wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung ECLI:DE:BGH:2020:031220BAK37.20.0 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Angeklagten und seiner Verteidiger am 3. Dezember 2020 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Koblenz übertragen.
Gründe:
I.
Der Angeklagte wurde am 19. Mai 2020 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz vom 5. Februar 2020 (OGs 8/20) vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich in der Zeit von Mitte August 2015 bis zum 30. Juni 2016 als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beteiligt, deren Zweck oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sei, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129b Abs. 1, § 129a Abs. 1 StGB.
Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz hat mit Anklageschrift vom 8. September 2020 wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Tatgeschehens Anklage zum Oberlandesgericht Koblenz erhoben, das am 28. Oktober 2020 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet hat.
II.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeklagte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.
a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die PKK wurde 1978 unter anderem von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die "Koma Civakên Kurdistan" ("Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan", im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen "konföderalen" Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den "Kongra Gele Kurdistan" (KONGRA GEL - "Volkskongress Kurdistans") und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.
Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die "Hêzên Parastina Gel" ("Volksverteidigungskräfte", fortan: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen "Selbstverteidigung" einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die HPG bekannten sich seit der Aufkündigung eines "Waffenstillstands" zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.
Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.
Nachdem der "Friedensprozess" im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den türkischen Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die "Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung" (YDGH
- Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi), die sich mit den Selbstverteidigungskräften der HPG zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der HPG, bei denen Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete Aktivitäten betreibt die PKK indes auch in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der "Civata Demokratîk a Kurdistan" ("Kurdische Demokratische Gesellschaft", im Folgenden: CDK), die die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD) im Juli 2013 in "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa" (KCD-E) um. Unter der Bezeichnung KCD-E werden nicht nur die Strukturen des KON-KURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.
Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 die drei Sektoren ("saha") "Süd", "Mitte" und "Nord"; seit 2012 ist der Sektor "Süd" in die Sektoren "Süd 1" und "Süd 2" aufgeteilt. Im Jahr 2016 wurden in den vier Sektoren neun Regionen ("eyalet") mit insgesamt 31 Gebieten ("bölge") gebildet. Für jede Organisationseinheit wird von der Führung mindestens ein Verantwortlicher eingesetzt; Sektoren, Regionen und Gebiete werden in der Regel von einem durch die Organisation alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.
bb) Der Angeklagte leitete von Mitte August 2015 bis Ende Juni 2016 das neu gegründete, zum Sektor " " gehörende PKK-Gebiet M. als hauptamtlicher Kader der PKK in Kenntnis ihrer Ziele, Programmatik und Methoden. Dabei war er unter anderem damit befasst, sogenannte Spendengelder beizutreiben und anderweitig Finanzmittel für die Vereinigung zu beschaffen, Veranstaltungen zu organisieren und Teilnehmer für solche zu mobilisieren sowie Anweisungen von vorgesetzten Kadern entgegenzunehmen und diesen Bericht zu erstatten.
b) Der dringende Tatverdacht beruht hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung PKK vor allem auf von dieser herrührenden Unterlagen und den in verschiedenen Vermerken niedergelegten Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes. Die Handlungen des Angeklagten, der eine organisatorische Tätigkeit für die PKK seit dem Jahr 2012 in Abrede gestellt hat, ergeben sich im Wesentlichen aus überwachter Telekommunikation, polizeilichen Observationen und augenscheinlich vom Angeklagten herrührenden Buchführungsunterlagen. Ergänzend kommen eine Mitteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und die in einem Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf getroffenen Feststellungen zu einer früheren Kadertätigkeit des Angeklagten hinzu. Wegen weiterer Einzelheiten zur vorläufigen Bewertung der Beweislage wird auf den Haftbefehl und die Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen.
c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB). Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der für die PKK in herausgehobener Funktion Tätigen liegt in der Fassung vom 6. September 2011 vor. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei dem Gebiet M. um ein solches im Sinne dieser Ermächtigung.
2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität.
Der Angeklagte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen, zumal er bereits im Zusammenhang mit einer früheren Tätigkeit für die PKK zu einer Freiheitstrafe von drei Jahren sowie neun Monaten verurteilt worden war, diese bis ins Jahr 2012 vollständig verbüßte und bis 2015 unter Führungsaufsicht stand. Dem mithin gegebenen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Der Angeklagte ist türkischer Staatsangehöriger. Von seiner Ehefrau ist er geschieden. Eine besondere Bindung an seine an verschiedenen Orten in Deutschland lebenden Brüder ist nicht ersichtlich. Einer Berufstätigkeit geht er nicht nach. Als über einen längeren Zeitraum hauptamtlich als Kader Tätiger verfügt er hochwahrscheinlich über zahlreiche Beziehungen innerhalb der PKK, die er unter Ausnutzung der entsprechenden Strukturen zur Flucht und zum Untertauchen zumindest im Inland oder europäischen Ausland nutzen kann.
Die Bemühungen des Angeklagten, eine Prothese für seine fehlende rechte Hand zu erlangen, senken das Risiko einer Flucht nicht entscheidend ab. Hierbei fällt insbesondere ins Gewicht, dass er bereits viele Jahre ohne einen solchen künstlichen Ersatz lebte und seinen Alltag bestreiten konnte.
Vor diesem Hintergrund ist insgesamt zu erwarten, dass er sich, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Maßnahmen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.
3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer. Nach der Festnahme des Angeklagten ist sein Mobiltelefon ausgewertet worden. Zudem ist in Bezug auf anderweitig sichergestellte Buchführungsunterlagen ein Behördengutachten dazu eingeholt worden, ob Unterschriften vom Angeklagten stammen. Nach zeitnaher Fertigstellung des Gutachtens am 3. September 2020 hat die Generalstaatsanwaltschaft bereits unter dem 8. September 2020 Anklage erhoben. Im Anschluss ist das Verfahren weiterhin zügig geführt und die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen worden. Die Hauptverhandlung soll am 8. Januar 2021 beginnen.
4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Dies gilt namentlich, wie bereits im Haftfortdauerbeschluss des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz vom 17. Juli 2020 zutreffend näher dargelegt, angesichts der Schwere des Tatvorwurfs auch unter Berücksichtigung der mit der Untersuchungshaft verbundenen besonderen gesundheitlichen Belastungen. Zwar kann die Untersuchungshaft die Versorgung des Angeklagten mit einer myolektrischen Unterarmprothese erschweren oder verzögern. Indes bleibt zum einen eine spätere Anpassung des Hilfsmittels weiter möglich. Zum anderen konnte der Angeklagte seinen Alltag über Jahre hinweg - auch im Tatzeitraum - trotz der gesundheitlichen Einschränkungen bewältigen. Seiner psychischen Verfassung wird im Vollzug etwa durch psychologische Beratungsgespräche Rechnung getragen.
Schäfer Spaniol Anstötz