VIa ZR 238/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 238/22 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 27. Februar 2024 Bachmann Justizfachangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:270224UVIAZR238.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2024 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Krüger, Wille und den Richter Liepin für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 23. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 21. Januar 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Berufungsantrag zu 1 betreffend seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des erworbenen Fahrzeugs zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger kaufte im Dezember 2014 bei der Beklagten einen von ihr hergestellten Neuwagen Mercedes-Benz C 220 CDI, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" unter anderem in Abhängigkeit von der Außentemperatur gesteuert. Das Fahrzeug verfügt über eine "Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung" (KSR), bei der nach der Behauptung des Klägers ein "Timer" zum Einsatz kommt. Im März 2020 veräußerte die Ehefrau des Klägers das Fahrzeug an einen Dritten.
Der Kläger hat die Beklagte in erster Instanz auf Erstattung des Kaufpreises abzüglich des Erlöses aus dem Weiterverkauf und einer Nutzungsentschädigung nebst Deliktszinsen in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat er seinen Zahlungsantrag mit der Maßgabe weiterverfolgt, dass er anstelle von Deliktszinsen Prozesszinsen beansprucht (Berufungsantrag zu 1), und die Feststellung begehrt, dass der Rechtsstreit im Übrigen erledigt sei (Berufungsantrag zu 2). Die Berufung ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Berufungsantrag zu 1 betreffend seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - wie folgt begründet:
Ein Anspruch gemäß §§ 826, 31 BGB stehe dem Kläger nicht zu, da ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten nicht festzustellen sei. Das gelte sowohl für das Thermofenster als auch für die KSR. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bestehe ebenfalls nicht. Das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liege nicht im Aufgabenbereich dieser Vorschriften.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat.
a) Damit eine unzulässige Abschalteinrichtung eine Haftung wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB auslösen kann, müssen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten des Fahrzeugherstellers oder des als Mittäter oder mittelbarer Täter handelnden Motorherstellers als besonders verwerflich erscheinen lassen. Einen solchen Umstand kann es darstellen, dass die unzulässige Abschalteinrichtung danach unterscheidet, ob das Kraftfahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird oder ob es sich im normalen Fahrbetrieb befindet. Bei der Prüfstandsbezogenheit handelt es sich um eines der wesentlichen Merkmale, nach denen eine unzulässige Abschalteinrichtung die Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllt. Die Tatsache, dass eine Software ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde (BGH, Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 303/20, juris Rn. 12; Urteil vom 6. November 2023 - VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 10 f.).
Sofern die verwendete Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist oder auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, kommt eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass - hier - der Fahrzeughersteller bei der Entwicklung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 303/20, juris Rn. 13; Urteil vom 6. November 2023 - VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 12, jew. mwN).
b) In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung des Klägers verneint. Es hat keine greifbaren Anhaltspunkte für die behauptete Verwendung einer prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung oder für einen bewussten Gesetzesverstoß in Bezug auf die - insoweit unterstellte - Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen festzustellen vermocht. Hieran ist der Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die Rüge der Revision, der Sachvortrag des Klägers zum Timer enthalte ausreichende Darlegungen zur Prüfstandsbezogenheit und zum Zusammenhang zwischen der zeitabhängigen Steuerung und dem Prüfzyklus, hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass der Berufungsentscheidung entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Die angefochtene Entscheidung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil sie sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Möhring Krüger Wille Liepin Vorinstanzen: LG Stuttgart, Entscheidung vom 29.07.2020 - 18 O 91/20 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 21.01.2022 - 23 U 627/21 -