5 Ni 58/11 (EP)
BUNDESPATENTGERICHT Ni 58/11 (EP) (Aktenzeichen)
…
IM NAMEN DES VOLKES URTEIL Verkündet am
12. März 2013 …
In der Patentnichtigkeitssache BPatG 253 08.05 gegen …
betreffend das europäische Patent 0 260 748 (DE 37 50 206)
hat der 5. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 12. März 2013 durch den Vorsitzenden Richter Gutermuth, die Richterin Martens sowie die Richter Dipl.-Ing. Kleinschmidt, Dipl.-Ing. Musiol und Dipl.-Ing. Univ. Albertshofer für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 0 260 748 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Hö- he von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 10. September 1987 angemeldeten, auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 260 748 (Streitpatent), das die Bezeichnung „Verfahren und Schaltungsanordnung zur Bitratenreduktion“ trägt und das zwischenzeitlich durch Ablauf der maximalen Schutzdauer erloschen ist. Das beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer 37 50 206 geführte Streitpatent nimmt die Prioritäten der drei deutschen Patentanmeldungen DE 36 31 252 vom 13. September 1986, DE 36 38 127 vom 8. November 1986 und DE 37 17 399 vom 23. Mai 1987 in Anspruch. Es umfasst 17 Patentansprüche, die alle mit den Nichtigkeitsklagen angegriffen sind.
Die unabhängigen Patentansprüche 1 und 10 haben in der erteilten Fassung in der Verfahrenssprache Deutsch folgenden Wortlaut:
„1. Verfahren zur Bitratenreduktion bei der Codierung eines Signals mit einer Folge von Signalwerten, das einen am häufigsten, in ununterbrochenen Teilfolgen vorkommenden, bestimmten Signalwert (A) enthält und aus denen eine Folge von Huffman-Codeworten gebildet wird,
dadurch gekennzeichnet, daß wenigstens ein Huffman-Codewort
- entweder aus einem anderen Signalwert und aus einer nachfolgenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist,
- oder aus einem anderen Signalwert und aus einer vorangehenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist,
gebildet wird und daß bei der Bildung der Folge der Codeworte nur die vorangehenden oder nur die nachfolgenden Teilfolgen des bestimmten Signalwertes (A) mit dem anderen Signalwert verwendet werden.“
„10. Schaltungsanordnung zur Bitratenreduktion bei der Codierung eines Signals mit einer Folge von Signalwerten, das einen am häufigsten in ununterbrochenen Teilfolgen vorkommenden, bestimmten Signalwert enthält und aus denen eine Folge von Huffman-Codeworten gebildet wird,
dadurch gekennzeichnet, daß Mittel (K, Z, PROM, FF) vorgesehen sind, die wenigstens ein Huffman-Codewort,
- entweder aus einem anderen Signalwert und aus einer nachfolgenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes, wenn diese vorhanden ist,
- oder aus einem anderen Signalwert und aus einer vorangehenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes, wenn diese vorhanden ist,
bilden und daß bei der Bildung der Folge der Codeworte nur die vorangehenden oder nur die nachfolgenden Teilfolgen des bestimmten Signalwertes mit dem anderen Signalwert verwendet werden.“
Wegen der abhängigen Patentansprüche 2 bis 9 sowie 11 bis 17 wird auf die Streitpatentschrift EP 0 260 748 B1 Bezug genommen.
Die Klägerinnen machen als Nichtigkeitsgründe geltend, der Gegenstand des Streitpatents in seiner erteilten Fassung gehe über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus und sei darüber hinaus nicht patentfähig.
Zum Rechtsschutzinteresse an der Vernichtung des durch Zeitablauf erloschenen Streitpatents verweisen die Klägerinnen auf den weltweiten Streit zwischen den Parteien um die Verletzung von Patenten betreffend den sog. „JPEG-Standard“, zu dem auch das Streitpatent gehöre. In einer Vereinbarung vom 20./30. Mai 2011 hätten die Parteien den Streit mit Ausnahme des auf Deutschland bezogenen Teils vergleichsweise beigelegt. Für Deutschland seien Schadensersatzzahlungen durch die Klägerinnen für den Fall vereinbart worden, dass das Streitpatent wie erteilt aufrechterhalten bliebe. Bei einer teilweisen Nichtigerklärung könne die Beklagte gerichtliche Hilfe durch ein deutsches Verletzungsgericht in Anspruch nehmen, um zu klären, ob eine Verletzung des „Restpatents“ durch Produkte der Klägerinnen vorliege.
Die Klägerinnen stützen ihr Vorbringen auf folgende Unterlagen:
K1 Registerauszug des DPMA K2 BPatG, Urteil vom 5. Juni 2007 betreffend das Streitpatent,
Aktenzeichen 4 Ni 60/06 (EU) verbunden mit 4 Ni 65/06 (EU) K3 EP 0 260 748 B1, Streitpatentschrift K4 EP 0 260 748 A2, Anmeldeunterlagen K5 DE 36 31 252 A1, Priorität 1 K6 DE 36 38 127 A1, Priorität 2 K7 DE 37 17 399 A1, Priorität 3 K8 WEN-HSIUNG CHEN und WILLIAM K. PRATT, "Scene Adaptive Coder", IEEE Transactions on Communications, Vol. COM-32, No. 3, März 1984, Seiten 225 bis 232 („Chen“) K9 US 4,316,222 K10 Erläuterung des Verfahrens nach Chen (K8) durch die Klägerin an Hand eines Beispiels K11 Merkmalsgliederung erteilter Patentanspruch 1 K12 Merkmalsgliederung erteilter Patentanspruch 10 K13.1–8 Anlagenkonvolut zum Nachweis der offenkundigen Vorbenutzung durch das System „WIDCOM VTC-56“
K14 US 4,420,771 K15 US 3,984,833 K16 US 4,092,676 K17 US 4,136,363 K18 US 4,494,151 K19.1–3 Anlagenkonvolut zum ESPRIT 563 – PICA-Projekt K20 Henry H. J. Liao, "Upper Bound, Lower Bound and Run- Length Substitution Coding", NTC '77 Conference Record, Vol. 3, Seiten 49:3-1 bis 49:3-6 (1977) („Liao Artikel”) K21 Kopie des „SETTLEMENT AGREEMENT“ vom 20./30. Mai 2011 teilweise geschwärzt K22 Handelsregisterauszug betr. Klägerin zu 2 K23 Kopie des „AGREEMENT: ASSUMING JOINT LIABILITY“ zwischen den Klägerinnen v. 22. Dezember 2011 K24 Anlagenkonvolut betr. die im EPA-Prüfungsverfahren ergangenen Bescheide zum Streitpatent.
Die Klägerinnen beantragen,
das europäische Patent 0 260 748 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klagen abzuweisen.
Hilfsweise verteidigt die Beklagte das Streitpatent in der Fassung der als Anlage zum Schriftsatz vom 4. Februar 2013 eingereichten Hilfsanträge I bis VIII sowie mit dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrag IIa vom 12. März 2013, jeweils mit hierzu angepasster Beschreibung. Mit Hilfsantrag IIa werde das Streitpatent in der Reihenfolge nach Hilfsantrag II und vor Hilfsantrag III als Reaktion auf den Schriftsatz der Klägerinnen vom 25. Februar 2013 verteidigt, mit dem diese erstmals eine unzulässige Erweiterung auch des Patentanspruchs 10 geltend gemacht hätten.
Die Beklagte tritt den Ausführungen der Klägerinnen in allen Punkten entgegen. Die Klage der Klägerin zu 2) sei unzulässig, weil diese kein eigenes Rechtsschutzinteresse an der Nichtigerklärung des Streitpatents geltend gemacht habe. Das Streitpatent sei gegenüber den ursprünglich eingereichten Unterlagen bei Zugrundelegung eines fachmännischen Verständnisses der erfindungsgemäßen Lehre nicht unzulässig erweitert und erweise sich auch gegenüber dem geltend gemachten Stand der Technik als rechtsbeständig, da dieser den Patentgegenstand weder neuheitsschädlich vorwegnehme noch ihn dem Fachmann nahelege.
Zur Stützung ihres Vorbringens legt die Beklagte folgende Unterlagen vor:
B1 BPatG, Urteil vom 5. Juni 2007 betreffend das Streitpatent, Aktenzeichen 4 Ni 60/06 (EU) verbunden mit 4 Ni 65/06 (EU), vgl. auch K2 B2 Ehlers, Haft, Königer, „Der Durchschnittsfachmann im Zusammenhang mit dem Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit im Patentrecht (Q213)“, GRUR Int. 2010, 815.
Die Klägerinnen halten das Patent auch in der erstmals in der mündlichen Verhandlung überreichten Fassung gemäß Hilfsantrag IIa, insbesondere wegen unzulässiger Änderung gegenüber der ursprünglichen Offenbarung (vgl. K4), für nicht rechtsbeständig. Eine Anpassung der Beschreibung bezogen auf die jeweilige Fassung, mit der das Streitpatent hilfsweise verteidigt werde, sei unzulässig. Dem tritt die Beklagte entgegen.
Zur Stützung ihres Vorbringens überreicht die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zudem zwei Wikipedia-Auszüge mit den Titeln „Entropiekodierung“ und „Shannon-Fano-Kodierung“ sowie die Druckschriften DE 35 10 901 C2, DE 35 10 902 C2 und DE 36 32 682 A1.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die gewechselten Schriftsätze samt allen Anlagen sowie auf den Hinweis des Senats nach § 83 Abs. 1 PatG vom 20. Dezember 2012 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe Beide Klagen sind aufgrund der vorgelegten Vereinbarung vom 20./30. Mai 2011 auch nach Ablauf der Schutzdauer des Streitpatents zulässig, unbeschadet des Einwands der Beklagten, ein eigenes Rechtsschutzinteresse der Klägerin zu 2) an der Nichtigerklärung des erloschenen Streitpatents sei zweifelhaft. Davon, dass diese eine Inanspruchnahme aus dem Streitpatent nicht zu befürchten habe, weil nicht in die Vereinbarung der Beklagten mit der Klägerin zu 1) einbezogen, ist nicht auszugehen, nachdem die Beklagte die Anregung des Senats, zur Klärung dieser Zweifel eine entsprechende Erklärung abzugeben, nicht aufgegriffen hat. Deshalb kann der Klägerin zu 2) ein eigenes Rechtsschutzinteresse an der Vernichtung des Streitpatents nicht abgesprochen werden.
Die Nichtigkeitsklagen sind auch begründet, denn das Streitpatent erweist sich in allen verteidigten Fassungen gegenüber der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Form als unzulässig erweitert (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ). Ob darüber hinaus der weitere Nichtigkeitsgrund der fehlenden Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a i. V. m. Art. 52 bis Art. 57 EPÜ) gegeben ist, kann vorliegend daher dahingestellt bleiben.
I.
1. Das in der Verfahrenssprache Deutsch abgefasste Streitpatent betrifft ein Verfahren und eine Schaltungsanordnung zur Bitratenreduktion bei der Codierung eines Signals (vgl. Streitpatent, Sp. 1, Z. 1 bis 3). Das zu codierende Signal besteht aus einer Folge von Signalwerten, wobei das Signal einen am häufigsten, in ununterbrochenen Teilfolgen vorkommenden, bestimmten Signalwert (A) enthält (vgl. Streitpatent, Patentanspruch 1).
Im Streitpatent wird weiter ausgeführt, dass aus dem Stand der Technik Verfahren und Vorrichtungen bekannt seien, welche aus derartigen Signalen Huffman-Codeworte bilden. Diese hätten aber den Nachteil, dass entweder nur Schwarzweißbilder codiert werden könnten, wobei zudem zwei unterschiedliche Teilfolgen codiert werden müssten (vgl. Streitpatent, Sp. 2, Z. 9 bis 14), oder dass sie zur Codierung des bei der Verarbeitung entstehenden Zwischensignals mehr als einer Tabelle bedürften (vgl. Streitpatent, Sp. 1, Z. 10 bis Sp. 2, Z. 8).
Vor diesem Hintergrund bezeichnet es die Streitpatentschrift als zu lösendes technisches Problem, ein Verfahren und eine Schaltungsanordnung bereit zu stellen, das bzw. die zu einer größeren als den bisher bekannten Bitratenreduktionen führt (vgl. Streitpatent, Sp. 2, Z. 45 bis 50).
Zur Lösung schlägt das Streitpatent ein Verfahren zur Bitratenreduktion bei der Codierung eines Signals nach dem erteilten Patentanspruch 1 vor, welches sich in folgende Merkmale gliedern lässt (in Anlehnung an die Merkmalsanalyse der Klägerinnen, vgl. Anlage K11):
1.1 Verfahren zur Bitratenreduktion bei der Codierung eines Signals;
1.2 das Signal
(a) umfasst eine Folge von Signalwerten; und
(b) enthält einen am häufigsten, in ununterbrochenen Teilfolgen vorkommenden, bestimmten Signalwert (A);
1.3 aus den Signalwerten wird eine Folge von Huffman-Codeworten gebildet;
1.4 wenigstens ein Huffman-Codewort wird gebildet
(a) entweder aus einem anderen Signalwert und aus einer nachfolgenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist; oder
(b) aus einem anderen Signalwert und aus einer vorangehenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist; und
1.5 bei der Bildung der Folge der Codeworte werden
(a) nur die vorangehenden Teilfolgen oder
(b) nur die nachfolgenden Teilfolgen des bestimmten Signalwertes (A) mit dem anderen Signalwert verwendet.
Der erteilte Patentanspruch 10 lautet (mit eingefügter Merkmalsgliederung in Anlehnung an die Merkmalsgliederung der Klägerinnen, siehe Anlage K12):
10.1 Schaltungsanordnung zur Bitratenreduktion bei der Codierung eines Signals;
10.2 das Signal
(a) umfasst eine Folge von Signalwerten; und
(b) enthält einen am häufigsten, in ununterbrochenen Teilfolgen vorkommenden, bestimmten Signalwert;
10.3 aus den Signalwerten wird eine Folge von Huffman-Codeworten gebildet;
10.4 Mittel (K, Z, PROM, FF) sind vorgesehen, die wenigstens ein Huffman-Codewort bilden
(a) entweder aus einem anderen Signalwert und aus einer nachfolgenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes, wenn diese vorhanden ist; oder
(b) aus einem anderen Signalwert und aus einer vorangehenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes, wenn diese vorhanden ist; und
10.5 bei der Bildung der Folge der Codeworte werden
(a) nur die vorangehenden Teilfolgen oder
(b) nur die nachfolgenden Teilfolgen des bestimmten Signalwertes mit dem anderen Signalwert verwendet.
2. Als Fachmann, auf dessen Kenntnisse vorliegend abzustellen ist, sieht der Senat einen Mathematiker oder Informatiker mit Universitätsabschluss und mehrjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Codierung von Videosignalen, dem insbesondere Kenntnisse der dort verwendeten Codier- und Decodier-Verfahren zur Datenreduktion zuzurechnen sind. Von einem solchen Fachmann kann erwartet werden, dass er die Huffman-Codierung und deren Eigenschaften kennt.
Soweit – wie von der Beklagten vertreten wird – ein Dipl.-Ing. der Nachrichtentechnik als zuständiger Fachmann gesehen würde, so wären auch bei diesem dieselben grundlegenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Codierung von Videosignalen, insbesondere auch der Huffman-Codierung und deren Eigenschaften vorauszusetzen. Bei Betrachtung des vorliegenden Patents käme daher auch ein Dipl.-Ing. der Nachrichtentechnik zur Überzeugung des Senats zu demselben fachmännischen Verständnis.
3. Ausgehend von dem Fach- und Erfahrungswissen des Fachmanns geht der Senat von folgenden, den einzelnen Begriffen zugrunde zu legenden Bedeutungsinhalten aus:
Das eine Folge von Signalwerten umfassende zu codierende Signal enthält einen bestimmten Signalwert (A), der am häufigsten und in ununterbrochenen Teilfolgen vorkommt. Der bestimmte Signalwert (A) tritt in dem Signal somit häufiger als alle anderen Signalwerte auf. Eine ununterbrochene Teilfolge enthält eine Anzahl von Signalwerten mit demselben Betrag, die nicht durch einen Signalwert mit einem anderen Betrag (oder ein anderes Datum) unterbrochen wird. Da der bestimmte Signalwert (A) in der ununterbrochenen Teilfolge vorkommt (vgl. Merkmal 1.2), enthält die ununterbrochene Teilfolge des bestimmten Signalwerts (A) zwangsläufig wenigstens einen bestimmten Signalwert (A) und die Länge dieser ununterbrochenen Teilfolge ist mithin größer als Null.
Angesichts der Angaben in den Merkmalen 1.4a bis 1.5b erschließt es sich unmittelbar, dass aus den Signalwerten und nicht aus den ununterbrochenen Teilfolgen eine Folge von Huffman-Codeworten gebildet wird (Merkmal 1.3).
II. Zur erteilten Fassung Der Gegenstand des Streitpatents in der erteilten Fassung geht in unzulässiger Weise über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus (Artikel 138 (1), c) EPÜ).
Zur Beurteilung, ob eine unzulässige Erweiterung vorliegt, ist der Gegenstand des erteilten Patents mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen und zu prüfen, ob die erteilten Patentansprüche auf einen Gegenstand gerichtet sind, den die ursprüngliche Offenbarung aus Sicht des Fachmanns als zur Erfindung gehörend erkennen ließ (BGH, Urteil vom 22. Dezember 2009 – X ZR 27/06, GRUR 2010, 509, Rdn. 25 – Hubgliedertor I; BGH, Urteil vom 5. Juli 2005 - X ZR 30/02, GRUR 2005, 1023, 1024 – Einkaufswagen II). Der hier- für maßgebliche Inhalt der ursprünglichen Offenbarung ist dabei nicht auf den Gegenstand der in der Anmeldung formulierten Patentansprüche beschränkt, vielmehr ist anhand der Gesamtheit aller ursprünglich eingereichten Unterlagen zu ermitteln, was als zur angemeldeten Erfindung gehörend anzusehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2010 – Xa ZR 124/07, GRUR 2010, 910, Rdn. 46 - Fälschungssicheres Dokument, m. w. N.). Zum Offenbarungsgehalt einer Patentanmeldung im Zusammenhang mit der Frage, ob eine unzulässige Erweiterung vorliegt, gehört aber nur das, was den ursprünglich eingereichten Unterlagen „unmittelbar und eindeutig“ zu entnehmen ist, nicht hingegen eine weitergehende Erkenntnis, zu der der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens oder durch Abwandlung der offenbarten Lehre gelangen kann (BGH - Fälschungssicheres Dokument, m. w. N.).
a) Das Merkmal 1.4 des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung ist zur Überzeugung des Senats den ursprünglichen Unterlagen (vgl. Anlage K4) nicht „unmittelbar und eindeutig“ zu entnehmen.
Die Bildung der Huffman-Codeworte ist gemäß dem Wortlaut des erteilten Patentanspruchs 1 im Merkmal 1.4 dadurch gekennzeichnet, dass wenigstens ein Huffman-Codewort entweder
- aus einem anderen Signalwert und aus einer nachfolgenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist, (Merkmal 1.4a)
oder
- aus einem anderen Signalwert und aus einer vorangehenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist, (Merkmal 1.4b)
gebildet wird.
Dieses Merkmal 1.4 lässt in Folge der gewählten Formulierung „wenn diese vorhanden ist“, die sich ersichtlich nur auf die ununterbrochenen Teilfolgen beziehen kann, für den Fachmann offen, wie Ereignisse kodiert werden, bei denen einem anderen Signalwert eine Nullfolge des bestimmten Signalwertes vorausgeht und/oder nachfolgt, also keine ununterbrochene Teilfolge des bestimmten Signalwertes auftritt. Auch die weiteren Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1 definieren keine diesbezügliche Regelung. In den ursprünglich eingereichten Unterlagen ist dieser Fall jedoch nicht offengelassen, sondern definiert geregelt (vgl. Patentanspruch 1 der K4). In der Beschreibung der Ausführungsbeispiele in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen wird die Codierung von Ereignissen mit Auftreten von Teilfolgen der Länge Null sogar als wichtig hervorgehoben (vgl. K4, Sp. 2 Z. 51 bis Sp. 3 Z. 4):
„Wie der erfindungsgemäßen Lehre zu entnehmen ist, wird das Auftreten einer ununterbrochenen Teilfolge von Nullen und des sich dieser Teilfolge anschließenden Koeffizienten als ein zu codierendes Ereignis angesehen. Wichtig ist, dass auch das Auftreten keiner Null vor einem von 0 verschiedenen Koeffizienten - also das Auftreten einer Teilfolge der Länge 0 - als zu codierendes Ereignis behandelt wird.“
Auch die Figuren der Offenlegungsschrift beschreiben ausschließlich Codierungen, die Ereignisse mit Auftreten von Teilfolgen der Länge Null umfassen (vgl. dazu in K4 die Fig. 1 u. 2 mit der Länge L=0 und in der Tabelle gemäß Fig. 3 bspw. die Nr. 2, 5 und 11 mit der jeweils zugeordneten Länge Null einer beispielhaft als Nullfolge ausgeführten Teilfolge).
Gegenüber diesem ursprünglich offenbarten Verfahren mit der offensichtlich als erfindungswesentlich offenbarten Bildung von Huffman-Codeworten aus Ereignissen mit Auftreten von Teilfolgen der Länge Null wird nunmehr ein Verfahren beansprucht, bei dem die Codierung der in Rede stehenden Ereignisse offengelassen wird. Die Codierung dieser Ereignisse wird vielmehr ins Belieben gestellt.
Soweit die Beklagte vorträgt, es sei der Beschreibung des Streitpatents zu entnehmen, dass auch Ereignisse mit Auftreten von Teilfolgen der Länge Null (gemeinsam mit einem anderen Signalwert) als zu kodierende Ereignisse behandelt werden (vgl. Sp. 3, Z. 41 bis 45), ist dem zuzustimmen, jedoch hat diese Vorschrift, anders als im angemeldeten Patentanspruch 1, keinen Eingang mehr in den erteilten Patentanspruch 1 gefunden. Hierbei ist zu beachten, dass, falls auch unter Heranziehung von Beschreibung und Zeichnungen, Formulierungen in den Patentansprüchen mehrdeutig erscheinen, gleichwohl zu ermitteln ist, welche Vorstellungen der Fachmann mit ihnen verbindet. Dabei darf im Nichtigkeitsverfahren nicht etwa deshalb eine einengende Auslegung der angegriffenen Patentansprüche zugrunde gelegt werden, weil mit dieser die Schutzfähigkeit eher bejaht werden könnte (BGH, Urteil vom 24. September 2003 – X ZR 7/00, BGHZ 156, 179 - blasenfreie Gummibahn I). Im vorliegenden Zusammenhang erscheint es aber aus fachmännischer Sicht nicht abwegig, dass nicht alle Huffmann-Codeworte nach der Bildungsregel der Merkmale 1.4a bzw. 1.4b gebildet werden (vgl. Merkmal 1.4, „…wenigstens ein Huffman-Codewort wird gebildet…“), sondern eine Teilmenge der Codeworte unter Anwendung einer hiervon abweichenden Bildungsregel generiert wird.
b) Auch das Merkmal 1.5 des Patentanspruchs 1 in der erteilten Fassung ist zur Überzeugung des Senats den ursprünglichen Unterlagen (vgl. Anlage K4) nicht „unmittelbar und eindeutig“ zu entnehmen.
Während die Bildungsregel für das beanspruchte Codierverfahren im Merkmal 1.4 offen lässt, ob die Codierung gemäß Merkmal 1.4a oder 1.4b erfolgen soll, bestimmt Merkmal 1.5, dass bei der Bildung der Folge der Huffman-Codeworte eine Festlegung auf eine der beiden Varianten (Verwendung der nachfolgenden oder vorausgehenden Teilfolgen) erfolgen muss, an der dann für die Dauer der Anwendung des Verfahrens auf das komplette zu codierende Signal festgehalten werden muss.
Die ursprüngliche Offenbarung (vgl. nur den dortigen Patentanspruch 1) lässt beide Varianten nebeneinander zu (vgl. K4, Patentanspruch 1, Hervorhebung hinzugefügt):
„…daß jeder ununterbrochenen Teilfolge von Signalwerten A mit der Länge 0, 1, 2 usw. zusammen mit dem sich der Teilfolge anschließenden Signalwert oder zusammen mit dem der Teilfolge vorangehenden Signalwert ein Huffman-Codewort zugeordnet wird.“
Die mit dem Merkmal 1.5 des erteilten Patentanspruchs 1 festgeschriebene Exklusivität der Verwendung stets nur der vorangehenden oder stets nur der nachfolgenden Teilfolgen findet in den ursprünglich eingereichten Unterlagen weder eine wortgetreue noch eine sinngemäße Stütze. Daran ändert auch der Verweis der Beklagten auf die ursprünglich offenbarten Ausführungsbeispiele nichts, welche tatsächlich nur eine solche exklusive Verwendung zeigen. Wenn die Beklagte vorträgt, die Figur 1 der Offenlegungsschrift wie des Streitpatents würde den Fachmann unmittelbar annehmen lassen, dass ein Wechsel zwischen der Verwendung von vorangehenden oder nachfolgenden Teilfolgen nicht möglich sei, so ist dem entgegenzuhalten, dass dem Fachmann bewusst ist, dass er die Mannigfaltigkeit der zu kodierenden Ereignisse natürlich auf die Menge der vorangehenden und der nachfolgenden Teilfolgen zusammen mit jeweils einem anderen Signalwert erweitern und die statistischen Signifikanzen dieser größeren Mannigfaltigkeit für die Bildung der Huffman-Codeworte heranziehen kann. Insoweit beschränken die ur- sprünglich offenbarten Ausführungsbeispiele das Verständnis des Fachmanns vorliegend in keiner Weise.
c) Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 auch wegen weiterer von der Klägerin genannter Gründe über den Inhalt der ursprünglichen Unterlagen hinausgeht.
d) Mit dem Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung kann das Patent somit keinen Bestand haben.
e) Der auf eine Schaltungsanordnung gerichtete nebengeordnete erteilte Patentanspruch 10 weist die vorstehend dargelegten, ursprünglich nicht offenbarten Merkmale ebenfalls auf (vgl. Merkmale 10.4 und 10.5). Die vorstehende Argumentation zum erteilten Patentanspruch 1 gilt daher sinngemäß auch für diesen nebengeordneten Anspruch.
III. Zu den Hilfsanträgen Mit den Hilfsanträgen I bis VIII gemäß Schriftsatz vom 4. Februar 2013 und dem Hilfsantrag IIa, überreicht in der mündlichen Verhandlung am 12. März 2013, kann die Beklagte das Streitpatent nicht in zulässiger Weise verteidigen.
a) Die hilfsweise verteidigten Fassungen des Patentanspruchs 1 gemäß allen Hilfsanträgen enthalten ebenso wie der erteilte Patentanspruch 1 die Merkmale 1.4 und 1.5, wobei bei den Hilfsanträgen V bis VIII im Merkmal 1.4 und in den Hilfsanträgen IV bis VIII im Merkmal 1.5 seitens der Klägerin zwar Klarstellungen vorgenommen wurden (siehe Hervorhebungen), die jedoch keine Auswirkung auf den Sinngehalt dieser (ursprünglich nicht offenbarten) Merkmale haben:
1.4 wenigstens ein die Huffman-Codeworte wird werden gebildet
(a) entweder aus einem anderen Signalwert und aus einer nachfolgenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist; oder
(b) aus einem anderen Signalwert und aus einer vorangehenden, ununterbrochenen Teilfolge des bestimmten Signalwertes (A), wenn diese vorhanden ist;
1.5 bei der Bildung der Folge der Codeworte werden jeweils entweder
(a) nur die vorangehenden Teilfolgen oder
(b) nur die nachfolgenden Teilfolgen des bestimmten Signalwertes (A) mit dem anderen Signalwert verwendet.
b) Auch die jeweiligen Patentansprüche 1 der Hilfsanträge I, II, IIa und III bis VIII beanspruchen somit Lehren, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausgestaltung der Erfindung offenbart sind. Es wird hierzu auf die Ausführungen zum erteilten Patentanspruch 1 verwiesen.
c) Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob die zusätzlichen bzw. weiter geänderten Merkmale der jeweiligen Fassungen des Patentanspruchs 1 gemäß den Hilfsanträgen I, II, IIa und III bis VIII aus den ursprünglichen Unterlagen hervorgehen.
d) Mit dem Patentanspruch 1 in den mit den Hilfsanträgen I, II, IIa und III bis VIII verteidigten Fassungen kann das Patent somit keinen Bestand haben.
Der Gegenstand des nebengeordneten Patentanspruchs 9 in der Fassung des Hilfsantrags I, des nebengeordneten Patentanspruchs 4 in den Fassungen der Hilfsanträge II, III, IV, V, des nebengeordneten Patentanspruchs 3 in der Fassung der Hilfsantrags VI sowie des nebengeordneten Patentanspruchs 2 in der Fassung des Hilfsantrags VII sind aus den zum erteilten Patentanspruch 1 ausgeführten Gründen ebenfalls nicht bestandsfähig.
IV.
Das Streitpatent konnte daher in keiner der verteidigten Fassungen Bestand haben, wobei es auf die Frage der Patentfähigkeit nicht entscheidungserheblich ankam. Es kann in diesem Zusammenhang daher dahingestellt bleiben, inwieweit es zulässig wäre, im Falle einer beschränkten Aufrechterhaltung des (erloschenen) Streitpatents eine entsprechende Anpassung der Beschreibung des Streitpatents vorzunehmen.
Der Senat hatte keine Veranlassung, entsprechend der Anregung der Beklagten im Schriftsatz vom 4. Februar 2013, zu Fragen des fachmännischen Verständnisses im Zusammenhang mit der Huffmann-Codierung einen Sachverständigen zu beauftragen, da die Mitglieder des Senats über die erforderliche Sachkunde verfügen.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.
Gutermuth Martens Kleinschmidt Musiol Albertshofer Pü