AK 66/19
BUNDESGERICHTSHOF AK 66/19 BESCHLUSS vom 9. Januar 2020 in dem Strafverfahren gegen wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung ECLI:DE:BGH:2020:090120BAK66.19.0 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Angeklagten und seines Verteidigers am 9. Januar 2020 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Koblenz übertragen.
Gründe:
I.
Der Angeklagte wurde am 24. Juni 2019 festgenommen und befindet sich seit dem Folgetag aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz vom 17. Juni 2019 (OGs 56/19) in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe ab Anfang Mai 2018 bis zu seiner Festnahme in Kenntnis der Ziele, Programmatik und Vorgehensweise der Gesamtorganisation eine Führungsfunktion in der "Partiya Karkerên Kurdistan" ("Arbeiterpartei Kurdistans", im Folgenden: PKK) ausgeübt, indem er als hauptamtlicher Kader das PKK-Gebiet M. geleitet habe. Dadurch habe er sich als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB)
oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Wegen dieses Tatvorwurfs hat die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz gegen den Angeklagten unter dem 21. Oktober 2019 Anklage vor dem Oberlandesgericht Koblenz erhoben. Der zuständige Strafsenat hat mit Beschlüssen vom 27. November 2019 nach am 15. November 2019 durchgeführter mündlicher Haftprüfung den Haftbefehl in Vollzug gelassen sowie die Anklage zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet; er hält die Fortdauer der Untersuchungshaft auch weiterhin für erforderlich.
II.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeklagte ist der ihm in dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.
a) Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die PKK wurde 1978 u.a. von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die "Koma Civakên Kurdistan" ("Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan", im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen "konföderalen" Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, Syrien, Iran und Irak abzielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person von Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den "Kongra Gele Kurdistan" (KONGRA GEL, "Volkskongress Kurdistans") und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.
Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die "Hêzên Parastina Gel" ("Volksverteidigungskräfte", im Folgenden: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen "Selbstverteidigung" einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten und verletzten oder töteten dabei eine Vielzahl von diesen. Sie bekannten sich seit der Aufkündigung eines "Waffenstillstands" zum 1. Juni 2004 zu über 100 Anschlägen.
Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr war mit der Erklärung bereits der Vorbehalt verbunden, dass man im Fall von Angriffen von dem "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch machen und Vergeltung üben werde.
Nachdem der "Friedensprozess" im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, erklärte die Führung der Vereinigung, fortan einen "anderen Verteidigungskrieg" führen zu wollen, der sich nicht auf Auseinandersetzungen in den Bergen beschränken werde; seitdem nahmen die "Vergeltungsangriffe" genannten Anschläge der Organisation, bei der Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK jedoch auch in Deutschland und anderen Gebieten Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der "Civata Demokratîk a Kurdistan" ("Kurdische Demokratische Gesellschaft", im Folgenden: CDK), die die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen und die in Europa lebenden Kurden zu organisieren hatte. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD) im Juli 2013 in "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa" (KCD-E) um. Unter der Bezeichnung KCD-E werden nicht nur die Strukturen des KON-KURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.
Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Sektoren, Gebiete, Räume und Stadtteile eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 drei Sektoren ("Süd", "Mitte" und "Nord"), seit 2012 ist der Sektor "Süd" in die Sektoren "Süd 1" und "Süd 2" aufgeteilt. Für jede Organisationseinheit wird von der Führung mindestens ein Verantwortlicher eingesetzt; Sektoren und Gebiete werden in der Regel von einem durch die Partei alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und dieser über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.
bb) Der Angeklagte übernahm ab Anfang Mai 2018 die Verantwortung für das an den PKK-Sektor H. angegliederte PKK-Gebiet M. von seinem Vorgänger, der seit Anfang April 2018 unbekannten Aufenthalts ist.
In Wahrnehmung der Gebietsverantwortlichkeit beraumte er Versammlungen mit untergeordneten Aktivisten an, nahm aber auf Anweisung übergeordneter Kader auch an Versammlungen mit diesen teil. Der Angeklagte ließ von den ihm untergeordneten Aktivisten zunächst ab September 2018 und sodann erneut ab Januar 2019 im Rahmen von sog. Spendenkampagnen festgesetzte Beträge einsammeln, überwachte diese Tätigkeiten und ermahnte sie zur Erfüllung ihrer Pflichten, wenn er mit Umfang und Engagement der von ihnen entfalteten Aktivitäten nicht einverstanden war. Aus den Spendenkampagnen und der Durchführung von Veranstaltungen herrührende Einnahmen gab der Angeklagte über einen Mittelsmann an übergeordnete Kader der Organisation weiter.
Zu den weiteren Aufgaben zählte die Organisation von PKK-bezogenen Veranstaltungen im In- und Ausland, bezüglich derer er ihm unterstellte Kader anwies, für weitere Teilnehmer zu sorgen. Der Angeklagte nahm auch selbst an diesen Veranstaltungen teil, namentlich an einem Protestmarsch in S.
anlässlich des 20. Jahrestages des "Internationalen Komplotts" gegen Abdullah Öcalan, an einer Kundgebung in M. mit dem Titel "Freiheit für Öcalan", einer von ihm selbst organisierten Veranstaltung, bei der zwei von der PKK als "Märtyrerinnen" verehrten Verstorbenen gedacht wurde, sowie am "Welt-Kobane- Tag" in F.
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b) Der dringende Tatverdacht gegen den die Tat pauschal bestreitenden Angeklagten wird durch folgende Umstände belegt:
aa) Hinsichtlich der ausländischen terroristischen Vereinigung PKK ergibt er sich aus den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden, insbesondere des Bundeskriminalamtes, die sich in zahlreichen Auswertungsberichten finden und auf deren Grundlage es bereits vielfach zu Verurteilungen von Kadern der PKK durch verschiedene Oberlandesgerichte gekommen ist, sowie aus öffentlichen Verlautbarungen der Organisation.
bb) Bezüglich der Tätigkeiten des Angeklagten als Gebietsleiter der PKK in M. folgt der dringende Tatverdacht insbesondere aus den Erkenntnissen aus Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen betreffend seinen Vorgänger, einen weiteren gesondert Verfolgten und den Angeklagten selbst. Zudem wurde der Angeklagte auf der Grundlage von Anordnungsbeschlüssen des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz observiert. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse haben zur Erhärtung des Tatverdachts beigetragen.
Wegen der Einzelheiten der den dringenden Tatverdacht gegen den Angeklagten begründenden Beweismittel und Indizien wird auf die ausführlichen Darlegungen im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Koblenz, in der Anklageschrift des Generalstaatsanwalts vom 21. Oktober 2019, dort insbesondere im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, sowie auf die Ausführungen des Oberlandesgerichts in dem auf die mündliche Haftprüfung ergangenen Beschluss vom 27. November 2019 Bezug genommen.
2. In rechtlicher Hinsicht hat sich der Angeklagte damit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht (§ 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Die PKK stellt aufgrund ihrer Verbandsstruktur eine Vereinigung dar, bei der sich der Einzelne entsprechend den intern bestehenden Regeln unter den Gruppenwillen unterordnet. Sie ist angesichts des von ihr in Anspruch genommenen - indes nicht gegebenen - "Selbstverteidigungsrechts" und der durch ihre Unterorganisation HPG verübten Anschläge darauf ausgerichtet, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Für die Anschläge besteht auch kein Rechtfertigungsgrund nach Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrecht (BGH, Beschlüsse vom 6. Mai 2014 - 3 StR 265/13, NStZ-RR 2014, 274 f.; vom 8. Februar 2018 - AK 3/18, NStZ-RR 2018, 106). An dieser Vereinigung beteiligte sich der Angeklagte durch seine Tätigkeit als Gebietsleiter mitgliedschaftlich.
Das Bundesministerium der Justiz hat am 6. September 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren und Gebiete der PKK erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).
3. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.
Der Angeklagte hat im Fall seiner Verurteilung - der gesetzliche Strafrahmen nach § 129a Abs. 1 StGB reicht von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe - eine empfindliche Freiheitsstrafe zu erwarten, von der ein hoher Fluchtanreiz ausgeht. Dieser wird durch fluchthindernde Umstände nicht wesentlich eingeschränkt, so dass es überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Angeklagte sich dem weiteren Verfahren durch Flucht entziehen würde:
Er ist türkischer Staatsangehöriger und verfügt unter Ausnutzung der Strukturen und Beziehungen innerhalb der PKK über Möglichkeiten zur Flucht und zum Untertauchen zumindest im europäischen Ausland. In Deutschland hat er zudem gefestigte soziale Bindungen nicht aufbauen können; zwar ist er verheiratet, doch ist die Ehe kinderlos und seine Frau ist im Zuge der Ermittlungen ebenfalls im Zusammenhang mit kurdischen Aktivitäten aufgefallen. Einer Berufstätigkeit ist der Angeklagte, der den Ideen und Zielen der PKK seit Jahren verhaftet ist, nicht nachgegangen; die von ihm offenbar nur zur Verschleierung angegebenen Arbeitsstellen in einer Reinigungsfirma oder als Servicekraft hat er vielmehr nach dem Ergebnis der Ermittlungen tatsächlich nicht angetreten.
Die aufgeführten Umstände begründen zudem die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) ebenfalls auf den Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) gestützt werden kann.
Den genannten Gefahren kann durch andere Mittel nicht in ausreichender Form begegnet werden; der Zweck der Untersuchungshaft ist deshalb nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO zu erreichen.
4. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben; der Umfang der Ermittlungen und ihre Schwierigkeit haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft:
Die Verfahrensakte umfasst derzeit 24 Ordner. Die im Vorfeld der Festnahmen durchgeführten verdeckten Ermittlungsmaßnahmen haben zahlreiche Erkenntnisse erbracht - etwa in Form von in ausländischer Sprache geführten Gesprächsprotokollen -, die übersetzt, ausgewertet und dokumentiert werden mussten.
Anlässlich der Festnahme des Angeklagten sind zudem seine Wohnung und die Wohnung eines Zeugen durchsucht und dabei zahlreiche Speichermedien sowie schriftliche Unterlagen sichergestellt worden, die ebenfalls zeitaufwendig zu sichten und auszuwerten gewesen sind; die diesbezüglichen und weitere Ermittlungsmaßnahmen betreffenden Auswerteberichte sind bis Mitte Oktober 2019 bei der Generalstaatsanwaltschaft eingegangen. Trotz des umfangreichen Beweisstoffs hat sie die Ermittlungen binnen vier Monaten nach der Inhaftierung des Angeklagten abgeschlossen und bereits unter dem 21. Oktober 2019 die Anklageschrift fertiggestellt, die unverzüglich beim Oberlandesgericht eingereicht und von diesem dem Pflichtverteidiger am 28. Oktober 2019 zugestellt worden ist. Nach Ablauf der gesetzten Stellungnahmefrist und Durchführung eines Haftprüfungstermins hat das Oberlandesgericht - wie dargelegt - mit Beschluss vom 27. November 2019 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Nach Durchführung eines Sondierungsgesprächs über den organisatorischen Ablauf der Hauptverhandlung sind am 5. Dezember 2019 die Termine mit der Verteidigung abgesprochen worden; die Hauptverhandlung soll am 27. Februar 2020 beginnen. Das Oberlandesgericht hat zudem bereits Zeugenladungen veranlasst und es dem Angeklagten ermöglicht, einen Teil der aufgezeichneten Gespräche zur Vorbereitung der Hauptverhandlung anzuhören.
Nach alldem ist das Verfahren bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Schäfer Gericke Erbguth