VIa ZR 1249/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 1249/22 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 11. September 2023 Bachmann Justizfachangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2023:110923UVIAZR1249.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2023 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Menges als Vorsitzende, die Richterin Möhring, die Richter Dr. Götz, Dr. Rensen und die Richterin Dr. Vogt-Beheim für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 24. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2022 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 12. September 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht auf die Berufung der Beklagten das Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 21. Dezember 2021 abgeändert, die Klage unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung der Klägerin insgesamt abgewiesen und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Klägerin kaufte im Dezember 2017 von der Beklagten einen von ihr hergestellten neuen Mercedes-Benz Vito zum Preis von 39.567,50 €, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet ist. In dem Fahrzeug kommt unter anderem eine sogenannte Abgasrückführung (AGR) zur Anwendung, die sich mindernd auf die Stickoxidemissionen auswirkt, jedoch außerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs reduziert wird (sogenanntes Thermofenster). Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamts betroffen.
Die Klägerin hat in erster Instanz - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - zuletzt Schadensersatz in Höhe von 24.627,18 € nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs verlangt. Das Landgericht hat dem Begehren in Höhe von 14.486,93 € nebst Prozesszinsen entsprochen und den Zahlungsantrag im Übrigen abgewiesen. Dagegen haben beide Parteien Berufung eingelegt. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin zuletzt unter Zug-um-Zug-Vorbehalt die Zahlung weiterer 9.203,16 € nebst Prozesszinsen beansprucht. Darüber hinaus hat sie wegen eines Teils ihrer ursprünglichen Klageforderung die Feststellung der Erledigung beantragt. Das Berufungsgericht hat unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision, die entsprechend der beschränkten Zulassung durch das Berufungsgericht ausschließlich Ansprüche wegen einer deliktischen Schädigung der Klägerin zum Gegenstand hat, hat Erfolg. Sie führt im tenorierten Umfang zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Beklagte hafte nicht gemäß §§ 826, 31 BGB. Die Klägerin habe die Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung unterstellt - nicht schlüssig behauptet. Es fehle an berücksichtigungsfähigem, auf tatsächliche Anhaltspunkte gestütztem Vortrag zu einem vorsätzlichen Verhalten von Repräsentanten der Beklagten. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EGFGV oder Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 scheitere bereits daran, dass es sich bei diesen Normen nicht um Schutzgesetze handele.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Soweit das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus §§ 826, 31 BGB mangels greifbarer Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten verneint, sind zwar Rechtsfehler nicht ersichtlich (vgl. § 559 Abs. 2 ZPO) und erhebt auch die Revision keine Einwände.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung des Thermofensters oder der KSR aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.
Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen Schadensersatzes" verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20,
ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Die Einwände der Revisionserwiderung gegen die dogmatische Herleitung eines solchen Anspruchs geben dem Senat weder Anlass, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzugehen, noch - wie von der Revisionserwiderung gefordert - ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten (vgl. nur BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 27 ff.; anders LG Duisburg, Beschlüsse vom 21. Juli 2023 - 1 O 55/19, 1 O 73/20 und 1 O 223/20, jeweils juris). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Das Berufungsurteil ist im tenorierten Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts kann eine deliktische Haftung der Beklagten wegen der jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht ausgeschlossen werden. Der Senat kann mangels hinreichender Feststellungen zum Haftungsgrund nicht in der Sache selbst entscheiden, sondern verweist sie zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Menges Rensen Möhring Vogt-Beheim Götz Vorinstanzen: LG Stuttgart, Entscheidung vom 21.12.2021 - 10 O 241/21 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 26.07.2022 - 24 U 377/21 -