IV ZB 30/21
BUNDESGERICHTSHOF IV ZB 30/21 BESCHLUSS vom 15. Juni 2022 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2022:150622BIVZB30.21.0 Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Richter Prof. Dr. Karczewski, die Richterinnen Harsdorf-Gebhardt, Dr. Bußmann, die Richter Dr. Bommel und Rust am 15. Juni 2022 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 4. November 2021 wird auf ihre Kosten verworfen.
Beschwerdewert: bis 230.000 €
Gründe:
I. Die Klägerin erstrebt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung.
Sie hat gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 19. Juli 2021 zugestellte Urteil des Landgerichts, mit dem ihre Klage abgewiesen wurde, fristgerecht Berufung eingelegt. Nachdem die Berufung nicht innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO begründet worden war, hat das Berufungsgericht die Klägerin mit Schreiben vom 23. September 2021 auf diesen Umstand sowie die beabsichtigte Verwerfung der Berufung als unzulässig hingewiesen.
Die Klägerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 29. September 2021, eingegangen beim Berufungsgericht am nächsten Tag, unter Beifügung einer auf den 16. August 2021 datierten Berufungsbegründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt und ausgeführt, der mit vollständiger und richtiger Adresse versehene Begründungsschriftsatz sei ausreichend frankiert am 16. August 2021 in einen Briefkasten der Deutschen Post gebracht worden. Zur weiteren Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf eine eigene eidesstattliche Versicherung bezogen, die auszugsweise wie folgt lautet:
"Daraufhin habe ich am 16. August 2021 nachmittags das Schreiben … korrigiert, …, unterzeichnet und an Frau Peggy S. im Sekretariat übergeben. Diese ist angewiesen, Schreiben unmittelbar zu frankieren, in das Postausgangsbuch einzutragen und in die Posttasche zu legen, mit der die gesamte Post zum Briefkasten der Deutschen Post … gebracht wird. …
Die Frist zur Abgabe habe ich danach im Fristenkalender gestrichen.
…" Die hierneben zur Akte gereichte eidesstattliche Versicherung der Frau Peggy S. (im Folgenden: Angestellte) lautet auszugsweise wie folgt:
"Ich bin in der Bürogemeinschaft … im Sekretariat tätig. Wenn Herr Rechtsanwalt M.
mir Post direkt übergibt, wiege ich den Brief sofort, frankiere ihn entsprechend und trage den Empfänger sowie das Porto in das Postausgangsbuch ein. …
Danach lege ich den Brief direkt in eine Ledertasche, in der die gesamte Post gesammelt wird, um diese dann zur Post zu bringen.
... . Natürlich habe ich keine konkrete Erinnerung an den Brief an das Oberlandesgericht Oldenburg, … ".
II. Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, ohne ein ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist verhindert gewesen zu sein. Es könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Schriftsatz vom 16. August 2021 nicht im Verantwortungsbereich des Prozessbevollmächtigten der Klägerin verloren gegangen sei. Dies gelte zum einen für den in den eidesstattlichen Versicherungen geschilderten Sachverhalt, soweit er konkret den vorgeblich auf dem Postweg verloren gegangenen Schriftsatz betreffe. Denn enthalten seien in den eidesstattlichen Versicherungen bezogen auf den Zeitpunkt ab der Übergabe des vorgenannten Schriftsatzes an die Angestellte nur Ausführungen zum "üblichen Procedere". Bloße Rückschlüsse aus dem üblichen Kanzleiablauf seien indes ungeeignet zur Glaubhaftmachung eines fehlenden Verschuldens des Prozessbevollmächtigten an der Versäumung der Frist. Zum anderen fehle es allgemein an einer wirksamen Postausgangskontrolle in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Die Erfassung im Postausgangsbuch sei hierfür ungeeignet, weil wesentliche Schritte wie etwa das Einlegen in die als Postausgangsbehältnis bestimmte Ledertasche zeitlich danach vorgenommen würden.
III. 1. Die Rechtsbeschwerde ist zwar nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist aber im Übrigen nicht zulässig, da es an den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Die Ablehnung der Wiedereinsetzung verletzt weder den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) noch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO) erforderlich. Auf die hinsichtlich der Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde erhobenen weiteren Bedenken der Beklagten kommt es deshalb nicht an.
2. Das Berufungsgericht hat zu Recht die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen, weil es ohne Rechtsfehler die Frist zur Begründung des Rechtsmittels als versäumt erachtet und das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes nicht als ausreichend dargelegt angesehen hat. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden im Sinne von § 233 Satz 1 ZPO verhindert, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten; sie muss sich insoweit das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 85 Abs. 2 ZPO).
a) aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat ein Rechtsanwalt durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Zu einer wirksamen Ausgangskontrolle gehört dabei die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages durch eine dazu beauftragte Bürokraft anhand des Fristenkalenders nochmals selbständig überprüft wird, um einerseits durch Abgleich mit dem Fristenkalender zu überprüfen, ob sich aus den Eintragungen im Fristenkalender noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben, und um andererseits festzustellen, ob möglicherweise in einer unter Verstoß gegen die zu treffenden organisatorischen Vorkehrungen fehlerhaft als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung gleichwohl noch aussteht. Dabei ist - etwa anhand der in der Ausgangspost befindlichen Schriftstücke, der Akten oder eines zu dieser Kontrolle geführten Postausgangsbuchs - auch zu prüfen, ob die im Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Schriftsätze tatsächlich abgesandt worden sind oder zuverlässig zur Absendung kommen werden (Senatsbeschluss vom 7. Januar 2015 - IV ZB 14/14 juris Rn. 8; BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2017 - VIII ZB 20/17, juris Rn. 7; vom 25. April 2017 - XI ZB 18/16, juris Rn. 10 f.; vom 4. November 2014 - VIII ZB 38/14, WM 2014, 2388 Rn. 8 ff.; vom 27. November 2013 - III ZB 46/13, juris Rn. 8 ff. jeweils m.w.N.).
bb) Gemessen hieran konnte das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei davon ausgehen, dass eine zuverlässige Postausgangskontrolle nicht sichergestellt war. Dafür fehlt es an einer den Arbeitstag abschließenden Überprüfung, ob die Absendung von im Fristenkalender und im Postausgangsbuch als erledigt erfasster Fristsachen tatsächlich sichergestellt ist.
Hierfür reichen die mit dem Wiedereinsetzungsantrag und den eidesstattlichen Versicherungen vorgetragenen organisatorischen Vorgaben in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht aus. Hiernach erfolgte die Löschung der Frist im Fristenkalender des Prozessbevollmächtigten nach Kuvertierung und Übergabe des Schriftsatzes an die Angestellte, die den Brief nach Frankierung und Eintragung in das Postausgangsbuch in eine Ledertasche einlegt. Damit ist eine abschließende zuverlässige Sicherstellung des Postausgangs nicht gewährleistet.
Sowohl die Löschung im Fristenkalender wie auch die Eintragung im Postausgangsbuch finden bei dieser Handhabung zu einem Zeitpunkt statt, in dem vor der Sicherstellung der Absendung noch Arbeitsschritte vorzunehmen sind und zudem zwischen der Eintragung in das Postausgangsbuch und der Aufgabe des Schriftstücks zur Post ein längerer Zeitraum liegen kann; dies steht der Annahme einer ordnungsgemäßen Organisation des Postausgangs entgegen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - XII ZB 356/17, NJW-RR 2018, 445 Rn. 19). Zu Recht weist die Rechtsbeschwerdeerwiderung in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der nach der Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorgesehene Ablauf schon mit Blick auf mögliche Ablenkungen der Angestellten durch dazwischentretende Umstände keine Gewähr bietet, den Postversand ohne eine den Arbeitstag abschließende Kontrolle sicherzustellen. Dies gilt hier umso mehr, als die Angestellte nicht nur für den Prozessbevollmächtigten der Klägerin, sondern gleichzeitig auch für die weiteren Mitglieder der Bürogemeinschaft, zwei Steuerberater, tätig war. Dies verstärkt das Risiko, dass die Angestellte z.B. durch Telefonanrufe, andere Aufträge der weiteren Mitglieder der Bürogemeinschaft oder das Erscheinen von Mandanten von der unmittelbaren Sicherstellung des Postversands abgehalten wird. Dieser Gefahr würde allenfalls dann entgegengetreten, wenn an einem gesonderten Arbeitsplatz in einem einheitlichen, nicht unterbrochenen Vorgang Kuvertierung, Frankierung, Eintragung in das Postausgangsbuch und sich unmittelbar anschließend die Verbringung zur Post durchgeführt werden (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 21. März 2019 - V ZB 97/18, NJW-RR 2019, 827 Rn. 24). Eine solche Organisation des Arbeitsplatzes der Angestellten liegt aber hier gerade nicht vor.
b) Das Berufungsgericht hat auch nicht verkannt, dass es auf Fragen der Kanzleiorganisation dann nicht ankommt, wenn auf andere Weise glaubhaft gemacht worden ist, dass der Schriftsatz tatsächlich rechtzeitig zur Post aufgegeben wurde (BGH, Beschlüsse vom 22. September 2020 - II ZB 2/20, juris Rn. 10; vom 11. Juli 2017 - VIII ZB 20/17, juris Rn. 9).
aa) Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Wiedereinsetzungsantrag den tatsächlichen Einwurf des die Berufungsbegründung enthaltenden Schriftsatzes in einen Briefkasten der Deutschen Post vorträgt, fehlt es schon an einer Glaubhaftmachung (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
bb) Ohne Rechtsfehler konnte das Berufungsgericht auch unter Zugrundelegung des in den eidesstattlichen Versicherungen enthaltenen Vortrags die ausreichende Darlegung eines Wiedereinsetzungsgrundes verneinen.
(1) Wenn - wie hier - ein fristgebundener Schriftsatz verloren gegangen ist, ist eine Glaubhaftmachung, wo und auf welche Weise es zum Verlust des Schriftstücks gekommen ist, nicht erforderlich; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist vielmehr bereits dann zu gewähren, wenn die Partei auf der Grundlage einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe bis zur rechtzeitigen Aufgabe des in Verlust geratenen Schriftsatzes zur Post glaubhaft macht, dass der Verlust mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht im Verantwortungsbereich der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten eingetreten ist (Senatsbeschluss vom 8. Juli 2020 - IV ZB 10/20, juris Rn. 14; BGH, Beschlüsse vom 22. September 2020 - II ZB 2/20, juris Rn. 11; vom 11. Juli 2017 - VIII ZB 20/17, juris Rn. 11; vom 2. Februar 2017 - VII ZB 41/16, NJW-RR 2017, 627 Rn. 14; vom 16. August 2016 - VI ZB 40/15, NJW-RR 2016, 1402 Rn. 8; vom 10. September 2015 - III ZB 56/14, NJW 2015, 3517 Rn. 14; jeweils m.w.N.). Dabei kann die Partei den Verlust des Schriftstücks auf dem Postweg regelmäßig nicht anders glaubhaft machen als durch die Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Aufgabe des Schriftstücks zur Post, die als letztes Stück des Übermittlungsgeschehens noch ihrer Wahrnehmung zugänglich ist (BGH, Beschluss vom 10. September 2015 - III ZB 56/14, aaO).
(2) Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Nach dem Inhalt der eidesstattlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin endet seine Wahrnehmung hinsichtlich der Berufungsbegründungsschrift mit der Aushändigung an die Angestellte. Daran schließen sich aber noch mehrere Arbeitsschritte bis zum Einwurf des Schriftsatzes in den Postbriefkasten an, so dass sich in vielfältiger Weise die Möglichkeit eines Verlustes des Schriftsatzes im kanzleiinternen Bereich ergibt. Die eidesstattliche Versicherung der Angestellten ist hinsichtlich des konkreten Schriftsatzes unergiebig; sie hat ausdrücklich angegeben, keine "konkrete Erinnerung" an das Schriftstück zu haben. Der weitere Inhalt der eidesstattlichen Versicherung der Angestellten bezieht sich nur auf den allgemeinen Arbeitsablauf und ist deshalb ohne Relevanz (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 - VIII ZB 20/17 juris Rn. 12). Schließlich genügt allein der Eintrag eines nicht näher bezeichneten Schreibens an das Berufungsgericht in das Postausgangsbuch nicht, um mit überwiegender Wahrscheinlichkeit den Verlust des Schreibens im Kanzleibetrieb auszuschließen. Dies gilt selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Prozessbevollmächtigte versichert hat, "nur dieses Verfahren" vor dem Berufungsgericht geführt zu haben. Denn wie oben im Einzelnen ausgeführt bietet die Eintragung in das Postausgangsbuch vor Abschluss aller Arbeitsschritte bis zur Versendung des Schriftsatzes ohne eine sich anschließende Schlusskontrolle am Ende des Arbeitstages gerade keine hinrei- chende Sicherheit, dass der Schriftsatz abgesandt worden ist oder zuverlässig zur Absendung kommen wird (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 aaO juris Rn. 7).
Prof. Dr. Karczewski Harsdorf-Gebhardt Dr. Bußmann Dr. Bommel Rust Vorinstanzen: LG Oldenburg, Entscheidung vom 14.07.2021 - 13 O 3730/18 OLG Oldenburg, Entscheidung vom 04.11.2021 - 1 U 162/21 -