VIa ZR 694/21
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 694/21 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 14. Mai 2024 Bürk Amtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:140524UVIAZR694.21.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 19. April 2024 eingereicht werden konnten, durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Krüger, Wille und den Richter Liepin für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 16a. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 21. Oktober 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 22.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger kaufte am 24. März 2017 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten VW Sharan Comfortline 2.0 (Erstzulassung: 12. April 2016), der mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 288 ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug ist ein sogenanntes "Thermofenster" verbaut.
Der Kläger hat den Ersatz des Kaufpreises nebst Verzugszinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nebst Prozesszinsen begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
In den öffentlich bekannten und bereits in einer Vielzahl von entsprechenden Verfahren vorgetragenen Umständen seien keine tatsächlichen Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten zu sehen. Rückrufbescheide wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen für Fahrzeuge mit Dieselmotoren des Typs EA 288 seien nach eigener Kenntnis bisher nicht ergangen. Aus der Messung erhöhter Stickoxidwerte im Praxistest ergebe sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der Motorhersteller unzulässige Abschalteinrichtungen zur Erlangung der EG-Typgenehmigung eingesetzt habe. Auch das senatsbekannte Dokument mit dem Titel "Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinie & Freigabevorgaben EA 288" begründe einen solchen Anhaltspunkt nicht. Eine prüfstandsbezogene NOx-Ausstoßbeeinflussung ergebe sich weder aus der Applikationsrichtlinie noch aus dem Vortrag zur Funktionalität der Fahrkurve, zumal das sogenannte "Precon" den legitimen Zweck habe zu gewährleisten, dass nur die während der Prüffahrt entstandenen Schadstoffe der Messung zugeführt würden.
Im Hinblick auf das Thermofenster seien weder ein Täuschungsvorsatz der Beklagten noch ein Irrtum des Kraftfahrt-Bundesamtes über dessen Vorliegen im Rahmen des EG-Typgenehmigungsverfahrens ersichtlich.
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheitere daran, dass es sich bei den genannten Normen nicht um Gesetze zum Schutz des Vermögensinteresses von Fahrzeugerwerbern handele. Das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liege nicht im Schutzbereich von § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EGFGV.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte hafte nicht aus §§ 826, 31 BGB, lässt einen entscheidungserheblichen Rechtsfehler nicht erkennen.
a) Damit eine unzulässige Abschalteinrichtung eine Haftung wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB auslösen kann, müssen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten des Fahrzeugherstellers oder des als Mittäter oder mittelbarer Täter handelnden Motorherstellers als besonders verwerflich erscheinen lassen. Einen solchen Umstand kann es darstellen, dass die unzulässige Abschalteinrichtung danach unterscheidet, ob das Kraftfahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird oder ob es sich im normalen Fahrbetrieb befindet. Bei der Prüfstandsbezogenheit handelt es sich um eines der wesentlichen Merkmale, nach denen eine unzulässige Abschalteinrichtung die Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllt. Die Tatsache, dass eine Software ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung grenzwertkausal verstärkt aktiviert, indiziert eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde (BGH, Urteil vom 6. November 2023 - VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 11; Urteil vom 11. Dezember 2023 - VIa ZR 1012/22, juris Rn. 11).
Sofern die verwendete Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist oder auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, kommt eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass - hier - der Fahrzeughersteller bei der Entwicklung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 6. November 2023 - VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 12; Urteil vom 11. Dezember 2023 - VIa ZR 1012/22, juris Rn. 11).
b) In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung des Klägers verneint, weil es dem Klägervorbringen weder einen Anhaltspunkt für die behauptete Verwendung einer prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung noch einen Anhaltspunkt für einen Täuschungsvorsatz der Beklagten hinsichtlich des - insoweit als unzulässig unterstellten - Thermofensters zu entnehmen vermocht hat. Die darauf bezogenen Verfahrensrügen der Revision hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Zwar hat das Berufungsgericht ohne entsprechende Feststellungen auf die Applikationsrichtlinie für Dieselmotoren vom Typ EA 288 mit NOx-Speicherkatalysator (NSK) abgestellt, obwohl das Fahrzeug nach dem Klägervorbringen mit einem SCR-Katalysator ausgerüstet ist. Die Revision zeigt aber auch unter Beachtung der Applikationsrichtlinie für Dieselmotoren vom Typ EA 288 mit SCRKatalysator nicht auf, dass der Kläger eine prüfstandbezogene Abschalteinrichtung in prozessual beachtlicher Weise dargetan hat. Von einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
2. Die Revision wendet sich indessen mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil er sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
C. Fischer Wille Möhring Liepin Krüger Vorinstanzen: LG Ellwangen, Entscheidung vom 18.12.2020 - 3 O 294/20 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 21.10.2021 - 16a U 105/21 -