VIa ZR 1702/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 1702/22 URTEIL in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2025:140525UVIAZR1702.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 17. April 2025 eingereicht werden konnten, durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterin Möhring, die Richter Dr. Katzenstein, Dr. Ostwaldt und Dr. Tausch für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 24. November 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 80.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Klägerin erwarb im Januar 2017 von einem Händler ein neues Wohnmobil Hymer Tramp SL 704. Das von der Beklagten hergestellte Basisfahrzeug Fiat Ducato ist mit einem 2,3-Liter-Dieselmotor des Typs Jet mit 110 kW (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet. Es verfügt nach der Behauptung der Klägerin über eine Einrichtung zur Reduzierung der Abgasrückführung nach einem Zeitfenster von 22 Minuten sowie - worauf die Revision allein noch abstellt - über ein so genanntes "Thermofenster". Für den Typ des Basisfahrzeugs hatte eine Behörde der Italienischen Republik, das Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (MIT), eine EG-Typgenehmigung erteilt.
Die Klägerin hat die Beklagte zuletzt auf Ersatz des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs in Anspruch genommen. Ferner hat sie die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten und die Erstattung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten nebst Zinsen begehrt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Klägerin habe gegen die Beklagte keinen Anspruch aus §§ 826, 31 BGB. Sie habe keine konkreten Anhaltspunkte dafür aufgezeigt, dass ihr Wohnmobil über eine zeitbasierte Reduzierung der Abgasrückführung verfüge. Zu ihren Gunsten könne zwar unterstellt werden, dass das beanstandete "Thermofenster" als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren sei. Es liege insoweit jedoch weder eine Prüfstandsbezogenheit der Einrichtung noch ein Schädigungsvorsatz der für die Beklagte tätigen Personen vor.
Auch scheide ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6, 27 EG-FGV aus, weil die Beklagte kein Fahrlässigkeitsvorwurf treffe, nachdem dem MIT die von der Klägerin beanstandeten Funktionen seit Jahren bekannt gewesen seien, sie diese nach Überprüfung, die zureichend gewesen sei, nicht als unzulässig angesehen und keine Maßnahmen getroffen, insbesondere keinen Rückruf veranlasst habe. Zudem halte der Berufungssenat an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest, dass das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht im Aufgabenbereich der §§ 6, 27 EG-FGV liege.
Selbst wenn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden deliktischen Anspruchsgrundlagen angenommen würden, scheitere ein Schadensersatzanspruch der Klägerin schließlich an einem fehlenden Schaden im Sinne des § 249 Abs. 1 BGB. Denn dem von der Klägerin erworbenen Fahrzeug drohe weder eine Stilllegung noch eine sonstige Betriebsbeschränkung, nachdem die zuständige Behörde nach Überprüfung keinen Rückruf des Fahrzeugs veranlasst habe.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB mangels eines sittenwidrigen Verhaltens verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
2. Doch kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung im Hinblick auf das von der Klägerin beanstandete "Thermofenster" ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.
a) Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32). Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung kommt den Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV der Charakter von Schutzgesetzen zu, ohne dass es einer über die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben hinausgehenden Kompetenz des Verordnungsgebers zur Schaffung einer deliktischen Haftungsgrundlage bedurfte (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2023 - VIa ZR 1425/22, VersR 2024, 1306 Rn. 18 mwN; Urteil vom 23. Dezember 2024 - VIa ZR 598/23, juris Rn. 17; Urteil vom 12. März 2025 - VIa ZR 1608/22, juris Rn. 9; Urteil vom 30. April 2025 - VIa ZR 1653/22, juris Rn. 12).
Das Berufungsgericht hat daher zwar im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli
- III ZR 267/20, NJW 2024, 361 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20).
b) Mit den von dem Berufungsgericht angestellten Erwägungen zur Frage eines die Beklagte treffenden Fahrlässigkeitsvorwurfs kann ein Anspruch der Klägerin auf Ersatz des Differenzschadens gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden. Dem steht - wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat - schon entgegen, dass der Fahrzeughersteller, will er sich zur Widerlegung der Verschuldensvermutung (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 59 f.) auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen, einen Irrtum konkret darlegen und beweisen muss (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 63), und zwar in Bezug auf die nach § 31 BGB Verantwortlichen (vgl. BGH, Urteil vom 25. September 2023 - VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 14). Feststellungen hierzu sind dem Berufungsurteil nicht zu entnehmen. Die von der Revisionserwiderung gegen die Annahme einer gegen den Hersteller streitenden Verschuldensvermutung erhobenen Einwände geben dem Senat keinen Anlass, von seiner insoweit gefestigten Rechtsprechung abzuweichen (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2024 - VIa ZR 598/23, juris Rn. 20; Urteil vom 30. April 2025 - VIa ZR 1653/22, juris Rn. 14).
c) Ebenso wenig kann die Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV mit der Begründung abgelehnt werden, es fehle an einem Schaden, weil dem von dem Kläger erworbenen Fahrzeug weder eine Stilllegung noch eine sonstige Betriebsbeschränkung drohe, nachdem die zuständige Behörde nach Überprüfung keinen Rückruf des Fahrzeugs veranlasst habe. Vielmehr hat der Senat nach Erlass des Berufungsurteils sowohl entschieden, dass eine Verringerung des objektiven Werts des Fahrzeugs infolge seiner Ausrüstung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Vergleich zu einem Fahrzeug der betreffenden Baureihe und Motorisierung ohne unzulässige Abschalteinrichtung nicht ohne Verstoß gegen § 287 ZPO verneint werden kann, als auch die für die Schätzung des Schadens geltenden Maßstäbe geklärt (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245, Rn. 41 und 71 ff.; zu Wohnmobilen BGH, Urteil vom 27. November 2023 - VIa ZR 1425/22, VersR 2024, 1306 Rn. 25 ff.). Daran hält der Senat ungeachtet der in der Revisionserwiderung vorgebrachten Einwände fest (vgl. bereits BGH, Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 32; Urteil vom 30. April 2025 - VIa ZR 1653/22, juris Rn. 15).
III.
1. Die angefochtene Entscheidung ist gemäß § 562 ZPO aufzuheben, weil sie sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Eine Tatbestands- oder Legalisierungswirkung der vom MIT erteilten EG-Typgenehmigung für den Typ des Basisfahrzeugs kann der Annahme einer darin verbauten unzulässigen Abschalteinrichtung nicht entgegengehalten werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 34; Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 26 ff.; Urteil vom 27. November 2023 - VIa ZR 1425/22, VersR 2024, 1306 Rn. 22; Urteil vom 23. Dezember 2024 - VIa ZR 598/23, juris Rn. 24; Urteil vom 12. März 2025 - VIa ZR 1608/22, juris Rn. 11; Urteil vom 30. April 2025 - VIa ZR 1653/22, juris Rn. 16). Die von der Revisionserwiderung insoweit erhobenen Einwendungen geben dem Senat keinen Anlass zu einem an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichteten Vorabentscheidungsersuchen.
Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
2. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das Berufungsgericht erneut darüber zu befinden haben, ob der Klägerin ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens zusteht.
a) Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung ist die Anwendung deutschen Sachrechts auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2024 - VIa ZR 598/23, juris Rn. 28 am Ende) nicht von vornherein ausgeschlossen. Zu den insofern maßgebenden rechtlichen Grundsätzen hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 23. Dezember 2024 (VIa ZR 598/23, juris Rn. 26 bis 28) ausgeführt. Die dagegen von der Revisionserwiderung erhobenen Einwände geben dem Senat keinen Anlass, von seiner dort zum Ausdruck gebrachten Sicht abzuweichen oder ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 2025 - VIa ZR 1608/22, juris Rn. 13; Urteil vom 30. April 2025 - VIa ZR 1653/22, juris Rn. 19).
b) Sofern auf dieser rechtlichen Grundlage im Streitfall deutsches Sachrecht anwendbar ist, wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen und einen entsprechenden Zahlungsantrag zu stellen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Dabei wird es von einem objektiven Verstoß gegen die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auszugehen haben, falls die Beklagte das von ihr hergestellte und nach Vervollständigung von der Klägerin in Deutschland erworbene Basisfahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet und daher dem Basisfahrzeug eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung beigefügt hat (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2024 - VIa ZR 598/23, juris Rn. 30; Urteil vom 12. März 2025 - VIa ZR 1608/22, juris Rn. 14; Urteil vom 30. April 2025 - VIa ZR 1653/22, juris Rn. 20).
C. Fischer Möhring Katzenstein Ostwaldt Tausch Vorinstanzen: LG Mainz, Entscheidung vom 04.05.2022 - 2 O 72/21 OLG Koblenz, Entscheidung vom 24.11.2022 - 7 U 896/22 - Verkündet am: 14. Mai 2025 Neumayer, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle