III ZB 49/23
BUNDESGERICHTSHOF III ZB 49/23 BESCHLUSS vom 5. September 2024 in dem Rechtsstreit ECLI:DE:BGH:2024:050924BIIIZB49.23.0 Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. September 2024 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Herrmann, den Richter Reiter, die Richterin Dr. Arend sowie die Richter Dr. Kessen und Dr. Herr beschlossen:
Auf die Anhörungsrüge der Klägerin wird der Senatsbeschluss vom 18. April 2024 aufgehoben.
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Kammergerichts - 9. Zivilsenat - vom 5. April 2023 - 9 U 105/22 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 10.391,36 €
Gründe: 1 Die zulässige Anhörungsrüge der Klägerin ist begründet, so dass das Rechtsbeschwerdeverfahren fortzusetzen ist (§ 321a Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 ZPO). Die Rechtsbeschwerde ist zulässig (§ 574 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach nochmaliger Beurteilung der Rechtslage hat die Klägerin entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts und der bisherigen Auffassung des Senats hinsichtlich der Zeit bis zum 26. Juli 2020 einen hinreichenden Berufungsangriff (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO) geführt, indem sie geltend gemacht hat, "ein Vertrauenstatbestand" sei entgegen der Meinung des erstinstanzlichen Gerichts "gemäß der Rechtsprechung des BGH nicht erforderlich" (Berufungsbegründung S. 15, GA II 34; siehe auch Berufungsbegründung S. 6, GA II 25). Ob die Ausführungen rechtlich haltbar sind, ist für die Zulässigkeit der Berufung ohne Bedeutung (vgl. st. Rspr., zB BGH, Beschluss vom 20. Mai 2020 - IV ZB 19/19, NJW-RR 2020, 1114 Rn. 8 mwN).
Der Senat ist bislang in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Ausführungen in Buchstabe B Nummer I 3 (LGU 8) des erstinstanzlichen Urteils dahin zu verstehen sind, dass das Landgericht auch für den Zeitraum bis zum Entwurf der Vereinbarung am 26. Juli 2020 einen Vertrauenstatbestand unterstellt, aber unabhängig hiervon – und damit selbständig tragend – einen ersatzfähigen Schaden verneint hat. Letzteres wird von dem Berufungsvorbringen nicht angegriffen. Für diese Auslegung sprechen der generalisierende Einleitungssatz von Buchstabe B Nummer I 3 und der Umstand, dass dort in Absatz 2 Satz 2 vor den Wörtern "Abschluss" und "Vereinbarung" jeweils der unbestimmte Artikel steht, und dementsprechend das Wort "nach" im Sinne von "mit dem Inhalt" zu verstehen ist ("Selbst wenn ein schutzwürdiges Vertrauen auf einen Abschluss einer Vereinbarung mit dem Inhalt des erreichten Standes vom 26.07.2020 entstanden wäre, ist jedenfalls…").
Diese Interpretation ist indessen nicht zwingend. Das Wort "nach" in Absatz 2 Satz 2 kann ebenso eine zeitliche Bedeutung haben, mithin das Landgericht so zu verstehen sein, dass es einen Vertrauenstatbestand erst für die Zeit ab dem 26. Juli 2020 unterstellt hat. Hierfür spricht auch der Zusammenhang mit den Sätzen 1 und 3 des Absatzes. Bei diesem Verständnis des erstinstanzlichen Urteils mangelt die Ersatzfähigkeit des behaupteten Schadens der Klägerin bis zum 26. Juli 2020 an dem dafür notwendigen schutzwürdigen Vertrauen auf das Zustandekommen einer Vereinbarung, so dass ein den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO genügender Berufungsangriff vorliegt, indem die Klägerin die Erforderlichkeit eines solchen Vertrauens für ihren Anspruch in Abrede stellt.
Gleiches gilt für die Urteilsgründe unter Buchstabe B Nummer II 5, die auf die Ausführungen unter Buchstabe B Nummer I 3 Bezug nehmen.
Sind mehrere naheliegende Auslegungen des angefochtenen Urteils möglich, ist zur Wahrung des Verfahrensgrundrechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz die Interpretation maßgeblich, nach der die Voraussetzungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO erfüllt sind.
2. Dadurch, dass der Senat die zweite mögliche Auslegung des erstinstanzlichen Urteils in seinem Beschluss vom 18. April 2024 nicht in den Blick genommen hat, hat er zentralem Vorbringen der Rechtsbeschwerde (RBB 5) nicht hinreichend Rechnung getragen.
Herrmann Arend Vorinstanzen: LG Berlin, Entscheidung vom 27.10.2022 - 26 O 48/22 KG Berlin, Entscheidung vom 05.04.2023 - 9 U 105/22 -